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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer
Autoren: Dina Nayeri
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müssen, um Mahtab zu erreichen? Tja, lassen Sie es mich für Sie beantworten: Es würde nicht sehr lange dauern, um das Land zwischen ihnen zu überwinden, aber man müsste das ganze Meer leer schöpfen.
    Wenn Khanom Mansuri unter dem
korsi
-Tuch saß, sagte sie gern, dass es Kräfte gibt, die Schwestern miteinander verbinden, egal, wie weit sie sich voneinander entfernen und wie viele Kilometer sie trennen, selbst wenn eine von ihnen diese Welt ganz verlässt. Ich sehe, genau wie Khanom Mansuri haben auch Sie gewünscht, dass das die Wahrheit ist. Aber eine Geschichte ist von Natur aus eine Lüge, und
korsis
sind der Ort, wo alle Lügen ihren Anfang nehmen. Wenn die Wasserpfeife brennt und alle Augen auf dir ruhen, wie kannst du da der Versuchung einer wundersamen Geschichte widerstehen? Sie sollten also wissen, was als Nächstes kommt und was am Ende einer jeden Erzählung über Mahtab aus Sabas Mund hätte kommen sollen.
    Nach oben ging’s, und da war
maast
,
    Runter ging’s, und da war
dugh
.
    Und Mahtabs Geschichte war
dorugh
(Lüge!).

Kapitel Zwanzig
    Spätherbst 1992
    S päter sitzen sie zusammen in der Hütte, trinken Tassen mit heißer Schokolade, die eine von Dr. Zohrehs vielen weit gereisten Freundinnen aus der Schweiz mitgebracht hat. Saba blickt aus dem beschlagenen Fenster und versucht, das Wasser tief unten zu sehen. »Es ist wahr, oder? Alle denken das. Sie ist vom Flughafen ins Gefängnis gebracht worden, und dann haben sie behauptet, sie wäre nie dort gewesen.«
    Dr. Zohreh nickt. »Ja, normalerweise ist das ein Zeichen dafür, dass –«
    Saba hört nicht hin. »Und wir haben nie wieder was von ihr gehört.«
    »Noch ein Zeichen«, sagt die Ärztin nüchtern.
    Saba trinkt einen Schluck und klopft gegen die Fensterscheibe. Im Sommer hatten die fernen Umrisse des Meeres sie immer an ihren Lieblingssong erinnert, den mit dem
Dock
und der
Bay
. Im Winter war es bedrohlich, ein gewaltiges schwarzes Maul, das ihre Schwester verschlang. Jetzt jedoch besteht das Meer bloß noch aus vielen Tropfen, Steinen, Algen und Muscheln.
    »Ich dachte, ich hätte gesehen, wie sie mit Mahtab in das Flugzeug stieg«, sagt sie. »Ich habe eine Frau in einem blauen Manteau gesehen, mit einem Mädchen in meinem Alter.«
    »Du warst so jung«, sagt Dr. Zohreh. »Kinder erfinden Sachen, um etwas zu verarbeiten.«
    »Aber es ist einfach unglaublich seltsam. Dass sie beide verschollen sind … Keine Leichen, keine Beerdigung.« Diese Worte, ›keine Leichen‹, klingen morbide, wie ein Verrat. »Und das innerhalb weniger Tage.«
    »Das mit deiner Mutter war Wochen später«, stellt Dr. Zohreh richtig. »Aber ja, es ist ein echtes Mysterium. Und du hast wohl recht. Die Sache wird nicht gerade leichter dadurch, dass es keine Gräber gibt, keine Möglichkeit des Abschieds.«
    »Ich frage mich, wo genau sie ist«, sinniert Saba. »Wo im Wasser.«
    »Möchtest du über den Tag reden?«, fragt Dr. Zohreh.
    Saba schüttelt den Kopf. Eine andere Idee nimmt sie in Beschlag. Ja, sie wird nach Amerika gehen, aber es wird anders sein. Sie wird sich ein neues Leben aufbauen und aufhören, nach irgendeiner schemenhaften Vergangenheit zu suchen. Und obwohl das Wissen, dass sie ihre Mutter niemals finden wird, mit Schmerz einhergeht, ist es zugleich auch eine Entlastung. »Ich muss jetzt gehen«, sagt sie.
    Die Fahrt nach Cheshmeh ist dunkel und rutschig, und der Zustand der Straßen lenkt sie kurz von ihren Gedanken ab. Als sie eine Stunde später vor ihrem Haus hält, erinnert sie sich an Abbas’ Beerdigung, das Gefühl von Macht und Möglichkeiten. Wie sie damals die Menschen um sie herum taxiert hat, die Menschen in ihrer Schuld, und begriff, dass alles, was ihrem Vater und ihrem Mann gehört hatte, jetzt ihr gehörte. An jenem Tag war sie sicher gewesen, dass ihre Geduld und ihr Leiden sie erlöst hatten, dass sie eine andere geworden war. Nach dieser Sicherheit sehnt sie sich jetzt. Sie möchte danach greifen, das Hochgefühl spüren, mächtig zu sein, kein unbedeutendes Mädchen mehr, das vom Wind hin und her geworfen wird. Das wird sie erreichen, sagt sie sich, jeden Tag ein kleines bisschen mehr.
    Am Tag vor ihrer Abreise ist Reza in Rasht, und Saba schließt sich in ihrem Zimmer ein, um ihr heimliches Vermögen durchzusehen. Ein Drittel davon steckt sie zusammen mit ihren Grundbesitzurkunden in einen Umschlag. Dann nähen sie und Khanom Omidi die anderen zwei Drittel des Bargelds sowie den Schmuck in das Futter von
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