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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer
Autoren: Dina Nayeri
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Richtung, aber er achtete nicht auf sie. Die Familie wartete jetzt in dem Raum unmittelbar vor dem Gate, und Saba konnte das Flugzeug draußen sehen. Sie wusste, sobald sie durch diese Tür hindurchgingen, würden sie in das Flugzeug steigen, und Mahtab würde zurückbleiben – was ihr Angst machte, schließlich war Mahtab doch
gleich da drüben
. Sah denn keiner, dass Mahtab da mit dem falschen Baba stand?
    Sie entriss sich der Hand ihres Vaters und rannte los, so schnell sie konnte, weil der Mann und Mahtab sich entfernten. Ihr Baba lief ihr nach und schrie sie an, sie solle zurückkommen, und der Mann und Mahtab gingen in die andere Richtung durch die Sicherheitskontrolle, und ehe Saba wusste, wie ihr geschah, war sie nicht mehr in dem Raum direkt neben den Flugzeugen, sondern in einem riesigen Saal mit Tausenden von Menschen um sie herum. Als sie ihren Vater sah, der verrückt vor Angst hin und her hastete und nach ihr suchte, versteckte Saba sich unter einem Sitz und wartete. Sie würde das Land nicht ohne ihre Schwester verlassen, ganz gleich, was sie sagten.
    Später hörten wir, dass Agha Hafezi zwei Stunden lang nach Saba suchte, die sich unter dem Sitz nicht von der Stelle rührte.
    Während dieser Zeit muss Saba erneut die fremde Frau gesehen haben, denn als ihr Vater sie endlich fand, hatte sich ihre Geschichte noch einmal verändert, und der Mann mit dem braunen Hut hatte sich wieder in die Frau mit dem blauen Manteau zurückverwandelt. Saba hatte sie mit eigenen Augen gesehen. Sie war überzeugt, dass diese Frau ihre Mutter war und dass sie und Mahtab ein Flugzeug bestiegen hatten – ohne sie. Seltsam, denn Agha Hafezi hat mir erzählt, dass das kleine Mädchen, auf das sie immer wieder zeigte, überhaupt nicht wie Mahtab aussah. Es war bloß irgendein Straßenkind mit einem grünen Kopftuch. Aber vielleicht sah Saba auch nur ihr eigenes Spiegelbild in einer Scheibe.
    Wahrscheinlich waren der Mann mit dem braunen Hut, die Frau in Blau und das Kind mit dem grünen Kopftuch real, eine Familie, die halbwegs so aussah wie ihre eigene. Ich glaube nicht, dass Saba sie aus dem Nichts erfunden hat. Wer sie auch waren, durch sie verlor Agha Hafezi jedenfalls seine Frau für immer.
    Wir hörten Gerüchte, dass Bahareh Hafezi verhaftet worden war. Ein Beamter der Sittenpolizei erwischte sie, wahrscheinlich mit gefälschten oder unvollständigen Papieren. Vielleicht erkannte einer von ihnen sie wieder, weil sie an dem Tag des Unfalls festgenommen worden war, oder vielleicht fanden sie heraus, dass sie Christin und Aktivistin war. So oder so mussten sie irgendwem die Schuld dafür geben, dass ein Mädchen gestorben war, und jetzt wollte die Mutter außer Landes fliehen. Aber selbst ich weiß, dass sie ihre eigene Schuld an Mahtabs Tod vertuschen wollten – die vielen Verzögerungen, die sie zu verantworten hatten. Später behauptete jemand, Bahareh wäre im Evin-Gefängnis gesehen worden. Aber im Gefängnis wollte das niemand bestätigen, was ein schlechtes Zeichen ist. Manche sagten, dass sie in das Flugzeug gestiegen sein muss, dass sie ihre Familie aus Trauer verlassen hat. Ich vermute, deshalb hat Saba an ihrer Erinnerung festgehalten, dass die Frau und das Mädchen ohne sie ein Flugzeug bestiegen. Aber wie kann sie so etwas glauben? Eine Mutter, die ihre Tochter zurücklässt, weil sie zu viel eigenen Kummer hat? Weiß sie denn nicht, dass es der Fluch einer Mutter ist, bis ans Ende ihrer Tage zu trauern?
    Bahareh hat es nicht in das Flugzeug geschafft – da bin ich mir sicher. Wahrscheinlich sind ihre gefälschten Papiere aufgefallen. Sie war eine Kriminelle, wer weiß also, was sie mit ihr gemacht haben, während ihr Mann nach Saba suchte. Er sah sie nie wieder, und am Flughafen greifen diese Hundesöhne schnell zur Schusswaffe. Saba fuhr mit ihrem Vater nach Hause. Sie weinte untröstlich und warf ihm vor, Mahtab am Flughafen zurückgelassen zu haben. Er legte ein Lied auf, das »Across the Universe« hieß, denn dahin war Mahtab gegangen. In den Jahren danach spielte Saba es oft, wenn sie über all die Dinge nachdachte, die ihre Welt verändert hatten.
    Jetzt haben Sie Ihre Antwort. Den Beweis, dass Saba ein zerbrochenes Wesen ist, auf dem ein Fluch lastet. Den Grund, warum ich sie nie im Leben meines Sohnes akzeptiert habe. Ich sehe das gern als das Rätsel einer Geschichtenerzählerin: Jetzt, wo so viel Land und Meer zwischen den Schwestern liegt, wie viele Teelöffel voll würde Saba wohl schöpfen
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