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Ein Tag und zwei Leben (Episode 2)

Ein Tag und zwei Leben (Episode 2)

Titel: Ein Tag und zwei Leben (Episode 2)
Autoren: Adriana Popescu
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etwas gelitten hat und ich lächele.
     
     
    Die S-Bahn ruckelt gewaltig, aber das hat mich noch nie davon abgehalten, klare Striche zu zeichnen. Der Tag heute war bisher so verrückt, er hat ein Comic verdient. Meistens male ich Fetzen von Szenen in mein kleines, schwarzes Büchlein, aber diesmal entscheide ich mich für ein leeres Blatt aus weißem Papier. Es muss klar, sauber und gut werden. Mit meinem schwarzen Marker zeichne ich einfach drauf los. Dann wird es doch immer am besten: Wenn wir nicht viel nachdenken und einfach machen. So habe ich die besten Highlights in meinem Leben gesammelt. Und die schönsten Frauen angesprochen. Denkt man zu viel über etwas nach und zögert, formuliert es im Kopf schon mal vor, wird es selten gut. Deswegen lautet die Devise: machen und nicht denken.
    Schon nach wenigen Strichen erkenne ich ihr Gesicht, wie sie mich vom Papier aus anlächelt. Ja, ich kann viele meiner Freunde ziemlich gut zeichnen. Oft schon haben viele amüsante Comics aus meiner Feder für so manchen Lacher auf einer Party gesorgt. Aber niemand kann ich so gut mit so vielen Details zeichnen … Auch wenn ich sie nicht vor mir sitzen habe, so fällt es mir doch sehr leicht, sie lebensecht hier auf dieses Blatt Papier zu bringen. Mit jedem Strich und jedem Punkt erwecke ich sie mehr und mehr zum Leben. Ihre großen Augen, ihr Lächeln … die Überraschung, die ihr ins Gesicht geschrieben steht. Viel schwerer ist es, mich selbst zu zeichnen. Ich finde, ich sehe aus wie jeder englischer Junge, der eine deutsche Mutter hat. Meine Haare trage ich kurz, aber die Mütze wird mir den gewünschten Wiedererkennungswert geben. Dazu die Jacke, meine zu engen Hosen – und die Turnschuhe, die ich selbst bei dieser Kälte noch trage. Sie wird mich erkennen, denn genau so werde ich nach zwei Stationen und weiteren 50 Metern vor ihrer Tür auftauchen. Vielleicht habe ich ihre Überraschung noch nicht ausreichend zur Geltung gebracht …? Wenn ich sie zeichne, neige ich aber immer dazu, den ersten Rohentwurf zu übernehmen, weil sie dann schon perfekt ist. Nein, Lea ist nicht perfekt. Niemand ist das … Aber das Bild von Lea hier und in meinem Kopf, das kommt der Perfektion erstaunlich nah. Wenn ein Mensch so viel gibt, und selbst nach fiesen Schicksalsschlägen unter die Gürtellinie noch mit einem Lächeln im Gesicht aufwacht, dann ist das etwas Besonderes. Woher sie eigentlich die Kraft nimmt, auch mich noch mitzuziehen – das weiß ich nicht so genau. Aber ich bewundere sie. Das würde ich ihr natürlich nie sagen, weil sie dann ein kleines bisschen eingeschüchtert wäre.
    Mein Blick fällt auf die kleine Tüte neben meinen Füßen, deren Inhalt mich ein kleines Vermögen gekostet hat. Aber wenn ich mir ihr Gesicht vorstelle – und dafür muss ich nur auf diesen Comic schauen – dann war es das wert. Bevor ich in die nächste S-Bahn-Station einfahre, zeichne ich noch schnell die Umarmung, bei der ich sie wie immer etwas zu fest drücken werde. Sie wird sich beschweren, mich kneifen und lachen. Aber wehe, ich umarme sie mal nicht so fest! Dann beschwert sie sich und fragt, ob alles okay ist. Frauen soll einer verstehen …
    Für eine Zeichnung in der Bahn ohne feste Unterlage und in knapp acht Minuten, ist das gar nicht so übel geworden. Oft bin ich zu kritisch mit meinen Werken. Obwohl es «nur» Comics sind, und viele die paar Bilder in der Zeitung oder in den Zeitschriften achtlos überblättern, möchte ich doch, dass die wenigen Leute, die wirklich Spaß daran haben, auch ein qualitativ gutes Ergebnis bekommen. Dieser Comic überzeugt sogar das kritische Über-Ich in meinem Kopf.
    , Nächster Halt. Feuersee. Ausstieg in Fahrtrichtung links. ’
    Wer sagt es denn? Perfekte Punktlandung! Ich packe das Papier in die kleine Tüte, schultere den Rucksack und schiebe mich zwischen den zahlreichen Fahrgästen vorbei zur nächsten Tür. Von hier sind es nur noch gefühlte drei Minuten und dann … dann wird dieser Tag endlich eine neue, eine bessere Erinnerung bekommen. Und Lea eine Entschuldigung.
    Ihr Haus ist leicht zu erkennen. Im betrunkenen Zustand habe ich es schon stolpernden Schrittes gefunden. Zu viele Partys, zu viele Gespräche, zu viele Momente, die mein Gehirn in eine 32 Gigabyte-Speicherkarte verwandelt haben. 108 Schritte. Nicht mehr und nicht weniger – zumindest wenn ich mich konzentriere. Das tue ich. Jetzt. Hier.
    Das schönste an Geschenken, so sagt man, ist die Vorfreude auf das Gesicht des
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