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Ein Tag und zwei Leben (Episode 2)

Ein Tag und zwei Leben (Episode 2)

Titel: Ein Tag und zwei Leben (Episode 2)
Autoren: Adriana Popescu
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Kostüms … Jaja, ich weiß, der Nikolaus ist nicht der Weihnachtsmann und sein Kostüm sieht eigentlich ganz anders aus. Ich weiß. Aber heute spielt es keine Rolle. Er bringt Schokolade und kleine Geschenke. Nüsse und Mandarinen. Vielleicht auch eine Rute für die, die nicht ganz so artig waren. Und er bringt Erinnerungen.
    Ich greife nach der Mütze und ziehe sie zu mir, vorbei an Jogginghosen und Fußballschals. Wie kann so ein leichtes Stück Stoff nur so schwer werden?
    Erinnert ihr euch noch an das, was ich über meine lebhafte Fantasie gesagt habe? In genau solchen Momenten wünsche ich mir, sie wäre nicht da, sie würde mich in Ruhe lassen und andere kreative Köpfe überfallen. Ich will diesen Comic-Strip in meinem Kopf nicht sehen, aber selbst wenn ich die Augen verschließe, werde ich die Bilder nicht aufhalten können. Zu deutlich sehe ich einen kleinen Jungen, der mir verdammt ähnlich sieht, wie er am Abend seine schönsten Schuhe vor die Zimmertür stellt und einen kleinen Brief an den Nikolaus dazupackt. Weil er einfach nur «Danke!» sagen will. Und sich entschuldigt, weil er die Fensterscheibe der Nachbarn mit dem Fußball eingeschossen und dann behauptet hat, es wäre Felix gewesen, der andere Nachbarsjunge. Das war falsch und das tue ihm ehrlich leid, aber er wollte nur keinen Ärger. Ob der Nikolaus vielleicht trotzdem ein bisschen Schokolade dalassen kann, damit der Junge – nennen wir ihn Damian – in der Schule damit angeben kann? So wie alle Kinder, die stolz und mit leuchtenden Augen erzählen, was der Nikolaus so alles in den Schuh gepackt hat. So fängt der Comic in meinem Kopf an. Soweit harmlos. Aber dann fangen meine Augen an zu brennen und meine Hände formen sich ungewollt zu Fäusten, weil die Wut anrollt. Wie besagte Steinlawine. Weil es wehtut! Jedes Jahr! Auch jetzt noch, obwohl aus dem kleinen Jungen ein echter Kerl geworden ist, der nicht mehr viel mit dem Jungen von damals gemeinsam hat. Aber jetzt, wenn ich alleine in meinem Schlafzimmer sitze und sich Tränen in meinen Augen sammeln, da fühle ich mich kein bisschen älter.
    «Damian, der Kaffee wird …»
    Lea schiebt die Tür auf und bleibt in sicherer Entfernung stehen, als sie die Mütze in meiner Hand erkennt. Sie kennt das. Sie kennt mich. Jeder Schritt näher wäre ein Fehler. Es ist nicht ihre Schuld. Aber sie ist gerade hier. Sie wird meine Wut abkriegen, weil sie hier ist, weil es einfach ist, meine gemeinen Gefühle an ihr auszulassen. Sie wird mir verzeihen. Zumindest hoffe ich das, solange ich noch einen klaren Gedanken fassen kann.
    «Ach, Damian.»
    Ach, Damian … Ja. Genau. Das habe ich so oft gehört. Vor allem von ihr. Wann immer ich einen Fehler gemacht habe. Nur diesmal war es nicht mein Fehler. Ich habe nichts falsch gemacht! Nicht damals und nicht heute, aber das spielt keine Rolle, weil mich ein furchtbares Gefühl wieder überwältigen wird, das mit einem glühenden Schürhaken mein Inneres foltert.
    «Ich hoffe sehr, dass du jetzt zufrieden bist!»
    Lea sieht mich nur traurig an, aber ich interpretiere diesen Blick als Mitleid und das macht mich nur noch wütender. Meine ganze Kindheit haben mich Menschen so angesehen, als sie erfuhren, wie es bei uns zugeht. Jetzt will ich das nicht mehr, weil ich mich inzwischen wehren kann.
    «Spar dir dein verdammtes Mitleid!»
    «Das ist kein Mitleid. War es nie.»
    Sie spricht ruhig – während ich immer lauter werde, und mich bald dem Gefühl der Wut und Hilflosigkeit ergeben werde. Weil es keinen Sinn macht, dagegen anzukämpfen, weil es immer weiter wehtun wird.
    «Du und deine scheiß super Stimmung! Wunderbar, es ist Nikolaus. Schenk Simone doch mal was! Genieß den Tag doch einfach !»
    «Das habe ich nicht gesagt.»
    Lea bleibt noch immer so gelassen wie möglich, auch weil sie diese Situation die letzten Jahre immer wieder aufs Neue erleben musste. Oder wollte. Ich vergrabe mich an diesem Tag nicht zufällig und versuche, die Leute von mir fernzuhalten. Das gelingt mir mit allen, aber nicht mit Lea.
    «Aber das möchtest du. Weil du nicht willst, dass jemand deine Vorfreude auf das Fest der Liebe ruiniert. Ich bin wie ein Fleck auf einer weißen Tischdecke und das musst du sofort beheben. Habe ich recht?»
    Lea antwortet nicht, weil ich ihr ohnehin nicht zuhören würde. Oder weil sie weiß, dass alles was sie sagen könnte, mich nur noch wütender macht.
    «Du willst die ganze Welt in diese debile Weihnachtsstimmung lullen. Alle haben sich lieb,
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