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Ein Tag und zwei Leben (Episode 2)

Ein Tag und zwei Leben (Episode 2)

Titel: Ein Tag und zwei Leben (Episode 2)
Autoren: Adriana Popescu
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fast verloren habe! All das will ich ihr ins Gesicht schreien. Aber jetzt schüttele ich nur den Kopf und greife in meinen Rucksack, in dem ich alles für den heutigen Tag bei mir habe.
    «Ich bin enttäuscht. Und ich bin wütend. Richtig sauer. Auf dich.»
    Sie verdreht die Augen und will sich wieder zum Kühlschrank drehen, aber so leicht mache ich es ihr diesmal nicht.
    «Das schon wieder ...»
    Dabei habe ich ihr nie gesagt, wie ich mich gefühlt habe. Was in dem Kopf und dem Herzen des kleinen Jungen damals vorgegangen ist.
    «Und ich habe große Angst!»
    Ich starre auf den Rücken meiner Mutter, weil sie sich nicht wieder zu mir dreht und ich es trotzdem sagen werde.
    «Angst, dass du nicht mehr aufwachst, egal wie sehr ich dich rüttele. Egal wie oft der Notarzt auf deinen Brustkorb drückt.»
    Auch wenn sie den Comic-Strip in meinem Kopf nicht sehen kann, weiß ich genau, dass sie weiß, worüber ich spreche.
    «Deswegen bin ich wütend. Und enttäuscht, Mama. Weil es dir egal war. Ich war fünf Jahre alt und hatte so große Angst, dass du nicht mehr aufwachst.»
    Ihre Schultern zucken.
    «Und das kann man nicht einfach wieder gutmachen. Aber wenn du es irgendwann mal versuchen willst ...»
    … wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, um etwas zu sagen, um jetzt damit anzufangen. Aber sie hält es nicht für nötig, sich zu mir zu drehen oder etwas zu sagen. Natürlich! Meine Mutter hat sich in all den Jahren nicht verändert. Es ist nie ihre Schuld, und ich solle die alten Geschichten endlich ruhen lassen.
    «Machs gut.»
    Damit drehe ich mich zur Tür und schaffe einen Schritt, bevor sie nach meiner Hand greift. Es ist die erste Berührung, seitdem ich da bin. Sie drückt einfach nur meine Hand. Und obwohl deswegen nicht alles gut ist oder alles aus meinem Kopf verschwindet – es ist doch ein kleiner Anfang.
    «Warte.»
    Ihre Stimme klingt leise und brüchig, dennoch höre ich sie deutlich und nicke nur, ohne mich umzudrehen. Sie lässt meine Hand los und scheint etwas aus dem Schrank zu holen. Mein Herz pocht wie wild und ich starre auf den Fußboden vor mir. Genau hier. Hier ist ein Stück in mir kaputt gegangen. Zerbrochen. Das kann man nicht reparieren.
    Lea …
    Wieso ich ausgerechnet jetzt an Lea denken muss, weiß ich nicht. Aber wenn ich ein Teil von ihr bin, ist sie dann nicht auch ein Teil von mir? Ist sie nicht das Ersatzteil für jenes, das damals zerbrochen ist?
    «Der hier ist für dich.»
    Meine Mutter reicht mir einen billig aussehenden Schokonikolaus und lächelt mich unsicher an. Die Tränen in ihren Augen kann sie ebenso wenig verbergen wie ihre zitternden Hände.
    «Zwanzig Jahre zu spät, oder?»
    Aber ich schüttele den Kopf und kann, selbst wenn ich wollte, das Lächeln nicht verstecken.
    «Besser spät als nie.»
    «Danke, Damian. Für damals.»
    Frischluft schießt durch meinen Körper. Zumindest fühlt es sich so an. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Ich nicke einfach nur. Es ist nicht viel. Aber es ist alles, was ich wollte. Obwohl jetzt der Moment gekommen scheint, um über so vieles zu sprechen und so vieles zu klären – wir sind nicht die Typen dafür. Wir wollen nicht weinen. Ich kriege in dieser Wohnung früher oder später keine Luft mehr. Das wird immer so bleiben. Meine Mutter wird weinen, sobald ich die Wohnung verlassen habe und ich kann damit nicht besonders gut umgehen.
    «Ich geh dann jetzt.»
    Wenn meine Mutter weint, dann weiß ich einfach nicht, was ich machen soll. Umarmungen sind in unserer Familie nicht besonders beliebt und vielleicht will sie das auch gar nicht.
    «Komm bald mal wieder vorbei. Ja, Damian?»
    Bevor es peinlich wird, nicke ich und gehe etwas hastig über den Flur zur Wohnung hinaus in den kalten Hausflur. Ich will und kann nicht auf den Fahrstuhl warten, deswegen entscheide ich mich für die Treppen. Schon als ich ein Stockwerk nach unten gegangen bin, fange ich an zu rennen. Renne ich davon? Vermutlich. Weg von dieser Wohnung, den Erinnerungen und auch von meiner Mutter. Die Erinnerungen, die zu sehr schmerzen, vergessen wir lieber. Das klingt so herrlich einfach. Aber ihre Worte, die in meinem Kopf widerhallen sind zumindest ein kleines Pflaster.
    ,Danke, Damian. Für damals.’
    Egal wie lange sie nüchtern bleiben wird: heute hat sie das, was sie gesagt hat, auch so gemeint. Irgendwie ist das mehr wert, als ein mit Süßigkeiten gefüllter Schuh – oder nicht?
    Nach sieben Stockwerken spüre ich, dass meine Kondition in letzter Zeit
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