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Ein Tag im Maerz

Ein Tag im Maerz

Titel: Ein Tag im Maerz
Autoren: Jessica Thompson
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Lippenstift auf den Mund malte, gigantische Lockenwickler im Haar.
    Doch es war nicht so gekommen, wie er gehofft hatte, und die Jahre verstrichen, bis seine Träume sich weit außerhalb seiner Reichweite befanden. Es ließ ihn nicht los. Der Ausbruch einer Arthrose und ein ausuferndes Alkoholproblem hatten den Tagen, an denen er arbeiten konnte, schließlich ein Ende gemacht, und heute nahm er nur den Gewinn, den das Restaurant abwarf, und delegierte die Verantwortung. Lediglich an Sonntagabenden kam er vorbei, einen Gehstock umklammernd, und setzte sich in eine stille Ecke, wo er Weißwein trank und traurig das Restaurant beäugte, das er einmal geführt hatte.
    »Sie, Sara, meine Liebe, machen aus diesem Haus Ihr eigenes«, hatte er im letzten Oktober gesagt, und Tränen stiegen ihm in die braunen Augen. Seine Hände hatten auf ihren schmalen Schultern geruht, die von einem feinen Trägerhemdchen kaum bedeckt gewesen waren   – als schlage er sie zum Ritter. Sie hatte seine raue Haut gespürt und sein aufdringliches Aftershave gerochen. Die Knollennase in seinem runden, freundlichen Gesicht war rot von Jahren ausdauernden Trinkens.
    Er behandelte sie wie ein Großvater, ein exzentrischer, wunderbarer Mann, der beiseitegetreten war, um ihr eine Chance zu geben, Jahre nachdem sie, noch als Schulmädchen, an Samstagnachmittagen bei ihm auszuhelfen begonnen hatte. Niemand hatte ihr Potenzial je so erkannt wie Mauro. Niemand schien je so viel Geduld mit ihr gehabt zu haben. Er hatte sie niemals gemaßregelt oder angebrüllt, nicht einmal, als sie eine Sektflasche so ungeschickt öffnete, dass der Gast mit einer Augenverletzung ins Krankenhaus musste. Er hatte nur leise kichernd in der Küchenecke gesessen und den Unfallbericht ausgefüllt.
    Ein Gefühl der Wärme breitete sich in ihr aus, als sie an Mauro dachte, der immer an sie geglaubt hatte.
    Sara hatte nie erwartet, es weit zu bringen. Sie war eine eigenwillige, ungewöhnliche Frau mit kurzem dunklen Haar. Ihre Haut war so blass, dass sie fast durchscheinend wirkte, und ihre Augen waren von einem umwerfenden Blau. Sie war schmal und grazil gebaut und auf eine ätherische Weise schön, eine unabhängige Seele mit einer angenehmen, akzentuierten Stimme, die unter den richtigen Umständen zusammenschmelzen und ganz bodenständig klingen konnte. Als soziales Chamäleon wusste sie sich überall einzufügen, aber oft blieb sie dann die Antwort auf die Frage schuldig, wer sie war: Sie konnte das Mädchen beim Konzert einer Band sein, deren dunkler Eyeliner im Stroboskoplicht wie Tigerstreifen wirkte, aber auch, wenn sie es wollte, die nüchterne Geschäftsfrau in Kostüm und High Heels.
    Sara besaß einen eigentümlichen, trockenen Sinn für Humor, aber vor allem war sie leicht auf die Palme zu bringen. Sie war für ihre Hitzigkeit bekannt, und sie hatte ihr schon mehrfach Ärger eingebracht. Wer anders war, fiel auf, und wer auffiel, bekam Schwierigkeiten. Sie fragte sich oft, wieso sie durch das gewaltig breite Spektrum an Reaktionen, die sie im Laufe der Jahre bei Menschen hervorgerufen hatte, keine unkonventionelle Haltung zu den Wechselfällen des Lebens entwickelt hatte. Männerverliebten sich entweder leidenschaftlich in sie oder gerieten mit ihr in wütende Streitgespräche, weil sie es gewagt hatten, einer Freundin in der Schlange vor einem Nachtclub gegenüber den Begriff »Tusse« oder »Schnalle« zu gebrauchen. Sara war unverblümt, aber oft auch still. Sie war bezaubernd schön, aber sie neigte dennoch dazu, sich in den Hintergrund zurückzuziehen.
    Und während Saras Eltern noch hofften, dass sie ihrem Vorbild folgen und eine juristische Laufbahn einschlagen würde, war Sara mit der Leitung des White Rope zufriedener, als sie sich je hatte vorstellen können.
    Aus den Lautsprechern klangen leise die Maccabees. Sara sang das Lied leise mit, während sie nach hinten ging, um in der kleinen Büronische, die noch zum Gastraum gehörte, den Papierkram durchzusehen.
    Es war ruhig. Nur ein einziger Gast, ein älterer Herr, saß an einem Tisch im hinteren Teil des Restaurants, trank Kaffee und starrte ihr in den Nacken, erinnerte sich an die Jugend und eine Frau, die zu lieben er einst das Glück gehabt hatte. Er saß immer dort, wenn es im Restaurant ruhiger zuging, damit er in der Nähe eines anderen Menschen war.
    Das White Rope fügte sich gut in die Hauptstraße ein. Es befand sich zwischen einem extravaganten Café und einer mondänen Bäckerei, in der es
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