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Ein Stueck vom Himmel

Ein Stueck vom Himmel

Titel: Ein Stueck vom Himmel
Autoren: Karl Lukan
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Redaktionsschluss. Noch einmal fragte Peterka: »Gibt’s jetzt am Peilstein noch eine Erstbegehung zu machen?« – »Jetzt nicht mehr!« – Davon waren wir fest überzeugt (jeder von uns Jungen hatte schon Touren des damaligen äußersten Schwierigkeitsgrades VI begangen).
    1949 erschien unser Peilsteinführer ...und eines Tages war er wieder da, der Herr Reif! Seine in den Jahren der Emigration aufgestaute Fels- und Klettersucht entlud sich wie eine Explosion. »Als Junger war ich nicht so gut!«, sagte er. Meist im Alleingang kletterte er am Peilstein die bekannten Anstiege »aufi und auch gleich wieder abi« und vor allem stellte er bald fest, dass es dort noch immer Erstbegehungen zu machen gibt.
    An die zwanzig Erstbegehungen hatte Herr Reif dann auch noch gemacht, unter anderen den nach seiner Frau benannten Hedwig-Reif-Weg, V+ und eine Prof.-Viktor-Frankl-Kante, IV, eine Stelle V.
    Unser »Peilsteinführer für alle Zeiten« war nicht mehr auf dem neuesten Stand, war veraltet. Das habe ich bis heute nicht vergessen: Immer, wenn mir etwas Vollkommenes und Unübertreffliches angepriesen wird, muss ich spontan an unseren Peilsteinführer vom Jahr 1949 denken.
    Rudolf Reif war nicht nur für uns Junge der Herr Reif. So lustig er auch sein und erzählen konnte – er strahlte eine stille Würde aus. Wir sind uns bald etwas nähergekommen, waren miteinander am Berg unterwegs und er war auch öfters bei uns zu Gast – doch über die Jahre seiner Emigration hatte er geschwiegen. Nur einmal erzählte er mir, was er gemacht hatte, wenn die Sehnsucht nach Felsen und dem Klettern allzu groß geworden ist. »Dann bin ich Hirnklettern gegangen!«
    Hirnklettern: Herr Reif setzte sich an einen stillen Platz und erkletterte im Geist irgendeinen seiner Lieblingsanstiege an den Wiener Hausbergen. Besonders oft machte er den Wiener Neustädter Steig an der Rax – ein Weg des IV. Schwierigkeitsgrades mit interessanten Kletterstellen. Erstbegangen wurde er im Jahre 1902 und galt als die schwierigste Raxkletterei. Damals wollte die Bezirkshauptmannschaft Wiener Neustadt für Klettertouren einen »Befähigungsnachweis« anordnen. Als Protest gegen diese Schnapsidee bekam der neue Steig seinen Namen.
    Bevor Herr Reif seine Phantasie auf den Wiener Neustädter Steig losließ, musste er eine Entscheidung treffen: Sollte er gleich mit der Kletterei beginnen? Oder sollte er vorher auch den Zustieg dazunehmen? Auch der Zustieg gehört zu einer Bergfahrt, und der Weg durch die romantische Felslandschaft des Höllentals ist wunderschön. Aber meist wollte er doch lieber gleich in den Felsen klettern.
    Noch eine Entscheidung: Die Schlüsselstelle, der »Büchlriss« (weil oberhalb von ihm das Steigbuch liegt), ist ein enger kraftraubender Riss, »bei dem man nur den rechten Arm und das rechte Bein benützen kann, während die linken Glieder vergebens an der glatten Wand nach Haltepunkten suchen« (wie es im Raxführer aus dem Jahr 1909 heißt). Es gibt aber auch eine Möglichkeit, den unteren schwierigeren Teil des Risses zu umgehen – mit dem nach dem Bergführer Konrad Kain benannten Kainschritt, wenn man sich auch beim Hirnklettern weniger plagen wollte. »Meschugge!« (jüdisch: verrückt) – das hatte Herr Reif bei der Schilderung seiner Hirnklettereien immer wieder gesagt. Und dann war da noch etwas – und das war »ganz meschugge«!
    Beim Hirnklettern hatte er sich im »Büchlriss« auf der glatten Wand immer an einer winzigen Vertiefung festgehalten, von der er jedoch glaubte, dass es sie in Wirklichkeit gar nicht gibt. Doch als er nach seiner Rückkehr aus dem Exil wieder »seinen« Wiener Neustädter Steig kletterte, fand seine Hand tatsächlich eine Vertiefung ...
    »Die Erinnerung hat den Griff vergessen – das Unterbewusstsein nicht!« Und das war es, was Herr Reif »ganz meschugge« fand. Obwohl er viele Jahre mit dem »Doktor«, einem ausgewiesenen Fachmann fürs Unterbewusste, geklettert ist.
    Der Doktor
    ... war Univ.-Prof. Dr. Viktor Frankl (1905–1997). Er war Neurologe, Psychiater und Begründer der Logotherapie, ein weltweit bekannter Wissenschaftler, der 29 Ehrendoktorate erhielt, und Verfasser von 32 Büchern (von denen es Übersetzungen in zwanzig Sprachen gibt). Und er war auch ein Bergsteiger. Bergsteiger und Kletterer ist er geworden, weil er schreckliche Angst vor einem Blick in die Tiefe hatte.
    »Muss man sich denn alles von sich gefallen lassen? Kann man nicht stärker sein als die Angst?« – Mit
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