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Ein Sommer und ein Tag

Ein Sommer und ein Tag

Titel: Ein Sommer und ein Tag
Autoren: Allison Winn Scotch
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lässt die Hände sinken. «Ich habe mich irrsinnig dafür gehasst, weil ich so hart daran gearbeitet hatte, meine Wut loszulassen, um sanfter und mitfühlender zu werden. Aber der Gedanke war unerträglich, dass er zurückkam, wann es ihm passte, und dass er – auch das war mir schließlich klargeworden – genauso wieder verschwinden würde.»
    Rory ist blass geworden. Ich fühle mich, als sollte es mich eigentlich viel härter treffen, mir viel mehr ausmachen. Nach dieser endlosen Reise, dieser unendlichen Suche – eine Suche, die im Grunde ein ganzes Leben gedauert hat –, stellt sich heraus, dass er tatsächlich da war. Und, wer weiß: Vielleicht wäre er jetzt wieder hier – unter anderen Umständen. Aber die Umstände waren nicht anders, und er war nicht hier. Und mehr gibt es im Augenblick nicht zu sagen. Ich starre hinaus auf die trockene Wiese, die kahlen Bäume.
    «Ihr dürft mich nicht dafür hassen», fleht meine Mutter, und ich höre, dass sie weint, Mitleid heischend und reuevoll zugleich.
    «Tue ich nicht», antworte ich.
    «Ich weiß, wie du ihn erreichen kannst», schluchzt sie, sich vom erdrückenden Gewicht ihrer Schuld befreiend. «Wenn du willst, weiß ich, wie du ihn erreichen kannst.»
    Ich stehe auf, sehe erst sie, dann Rory an, drehe den Kopf und nehme die Weite dieses Anwesens in mich auf, die Bedeutung all dessen, was hier und anderswo geschehen ist.
    Dann gehe ich über die knarrenden Dielenbretter, gleite an ihr vorbei und schlage als Ausrufezeichen die Fliegentür hinter mir zu.
    «Nein», sage ich hinter der Tür. «Ich habe genug von alten Gespenstern. Wir sollten sie endlich begraben und unseren Frieden finden.»

    Am nächsten Abend wollen Rory und meine Mutter zurückfliegen, Anderson und ich wollen mit dem Auto fahren. Wir fühlen uns beide nicht wohl bei dem Gedanken, uns in die Lüfte aufzuschwingen. Wes bringt meine Mutter und Rory zum Flughafen, während Anderson und ich den Wagen packen – obwohl er eigentlich nie richtig ausgeladen wurde. Trotzdem vergewissern wir uns, dass wir nichts vergessen.
    Wes wird das Haus verkaufen – die Entscheidung fiel bei einem letzten gemeinsamen Spaziergang hinunter zum Steg, vorbei am Atelier meines Vaters, das seit Jahren leer und verlassen dasteht. Ich werde meine Wohnung in New York wahrscheinlich auch verkaufen. Vielleicht rufe ich Tina Marquis an und bitte sie, mir etwas völlig anderes zu zeigen, etwas, das zu meinem neuen Ich passt, zu dem unbeschriebenen Blatt, dem Ich, das unbelastet ist von dem Gewicht von Eleanor Rigbys Fluch auf den Schultern. Vielleicht kehre ich New York auch ganz den Rücken. Gehe irgendwo hin, wo ich wieder Musik machen kann, wieder den Noten in mir lauschen und nachspüren kann, wie sie mich bewegen. Ich weiß es nicht. Vorerst kann ich nur tun, wozu ich in diesem Augenblick in der Lage bin. Die Veränderung anzunehmen, sowie die neuen Farbtöne, die mit ihr in mein Leben treten.
    «Bist du sicher, dass du mit mir zurückfahren möchtest?», fragt Anderson. Es ist schon dunkel, wir haben uns beide in unsere Jacken verkrochen, weil gleichzeitig mit dem schwindenden Licht die Kälte kam. Es riecht nach welkem Laub, die dürren Zweige rascheln, und die letzten verbliebenen Vögel und Eichhörnchen leisten uns geschäftig Gesellschaft. Anderson steht gegen die Motorhaube gelehnt. «Weißt du, mir ist klar, dass ich es verbockt habe – ich habe alles verbockt, weil ich was mit Rory hatte.»
    Ich winke ab. «Nicht.»
    «Doch, lass mich aussprechen.» Und weil ich tatsächlich weicher geworden bin, so sein kann, wie ich früher nicht war, lasse ich ihn. «Ich habe dir versprochen, für dich da zu sein, alles zu tun, um mich dankbar zu erweisen, weil du mich gerettet hast. Und das habe ich völlig aus den Augen verloren.»
    «Wir verlieren alle mal etwas aus den Augen», sage ich und stelle mich neben ihn.
    Er schüttelt den Kopf. «Das ist es nicht allein. Ich … ich konnte einfach nicht raus aus meiner Haut, sosehr ich es auch wollte. Ich konnte wider besseres Wissen nicht mit der Selbstzerstörung aufhören.»
    Ich nicke und lehne den Kopf an seine Schulter, weil ich weiß, was er meint. Wer hat nicht alles Grenzen überschritten, obwohl er es hätte besser wissen müssen? Mein Vater natürlich. Aber meine Mutter, meine Schwester, mein Mann und ich selbst haben es genauso getan.
    «Ich will aber, dass du dich auf mich verlassen kannst. Immer», fährt er fort.
    «Ich bin die Frau, die dir das Leben
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