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Ein Sommer und ein Tag

Ein Sommer und ein Tag

Titel: Ein Sommer und ein Tag
Autoren: Allison Winn Scotch
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möglich ist. Ob ich nur Jahre damit verbracht habe, es zu verdrängen wie so vieles, ob ich diese Mauer errichtet habe, weil ich ein Kind war, weil ich keine andere Wahl hatte. Mein Vater hat mich nicht gerettet, um mich Monate später noch einmal unter Wasser zu drücken, indem er uns verließ. Hatte ich – Eleanor Rigby – denn eine Wahl?
    Ich stürze den Kaffee viel zu schnell hinunter und spüre die Hitze bis in meinen Magen.
    Hör auf damit, denke ich. Anderson hat recht. Es ist nur ein Lied, kein Schicksal, und vielleicht ist es tatsächlich nie mehr gewesen als ein blöder Wikipedia-Eintrag. Den wir alle für bare Münze nahmen, obwohl es nicht wahrer war als all die anderen Lügen. Wieso muss die Tatsache, dass mein Vater mich verlassen hat, mich für immer verfolgen? Vielleicht musste mir dieser Zahn gezogen werden, um jetzt Platz für alles andere – die Erinnerungen, den Instinkt, das Vertrauen in mich selbst statt in andere – zu schaffen.
    «Und was ist mit dem Rest von euch?», wiederholt Mimi meine Worte. Die kreisenden Bewegungen des schmuddeligen Lappens erstarren, während sie darüber nachdenkt.
    «Ja, was ist mit dem Rest von uns? Den Kindern, die dabei zu Schaden gekommen sind? Was ist mit uns? Haben wir das verdient?»
    «Wahrscheinlich nicht», gibt sie zu, und ihr Busen hebt und senkt sich. «Aber auch Kinder werden eines Tages erwachsen, und dann ist die Welt das, was sie daraus machen.»

    Ich trinke bereits die dritte Tasse Kaffee, als ich Wes’ Landrover höre, lange, bevor ich ihn sehe. Der Schalldämpfer muss abgefallen sein, denn der Motor dröhnt schon von ferne rasselnd durch die Straße, ehe er in Sicht kommt. Auf der anderen Straßenseite findet Wes eine Lücke und parkt ein. Eine kleine Glocke bimmelt, als er das Café betritt, und ein vereinzeltes Pärchen, das gekommen ist, um sich ein paar Kürbismuffins zu holen, jung gebliebene Frührentner, die aussehen wie ehemalige Investmentbanker, die ein paar Millionen auf die Seite gebracht, anschließend habt uns doch alle gern gedacht und sich auf einer Farm zur Ruhe gesetzt haben, drehen sich um und nicken ihm zu.
    «Woher hast du gewusst, dass ich hier bin?», frage ich ihn. Während ich an meinem Hörnchen zupfe, muss ich an das Treffen mit Jasper bei Starbucks denken und daran, wie viel und gleichzeitig wie wenig sich ändern kann. Sosehr man sich auch bemüht, trotz allem.
    «Mimi.» Er deutet auf sie, als sie mit einem vollen Becher und einem Croissant angeschlendert kommt.
    «Wes», begrüßt sie ihn, «wie immer.» Sie stellt ihm den Teller hin.
    «Ist es in Ordnung, dass ich hier bin?» Er reißt dem Hörnchen eine Ecke ab und schiebt sie sich unter die Zunge. Er sieht aus wie ein kleiner Junge, und nach dem Erinnerungsschwall gestern lauert auch die Erinnerung daran, wie er war, wie wir beide waren, so dicht unter der Oberfläche, bettelt förmlich darum, wartet ungeduldig darauf, endlich herauszudürfen. Es ist, als könnte ich körperlich spüren, wie die Funken sprühen, um meine graue Materie anzuheizen. Noch ist es nicht so weit, aber ich bin mir sicher, dass es bald kommen wird.
    «Ja, es ist gut», antworte ich, «obwohl Mimi eine ziemlich gute Therapeutin ist.»
    Er lacht. «Eine der besten.»
    Ich denke an Liv. Daran, dass ich sie anrufen muss, aber auch, dass ich eines Tages in nicht mehr allzu ferner Zukunft nicht mehr so oft an sie denken, meine Sätze nicht mehr mit der Floskel «Meine Therapeutin» beginnen möchte. Ich denke daran, dass es vielleicht schon bald genügt, mir selbst Rechenschaft abzulegen, um mit mir im Reinen zu sein.
    «Vermisst du ihn?», frage ich, nur scheinbar aus dem Zusammenhang gerissen.
    «Wen? Unseren Vater?»
    Ich nicke und schiebe den Teller mit dem Hörnchen weg.
    «Nein, eigentlich nicht. Ich habe ihn – oder die Idee von ihm – schon vor langer Zeit losgelassen.»
    «Und du wolltest ihn auch niemals finden?»
    Er denkt lange nach, sieht einem mit dürren Zweigen beladenen Lastwagen hinterher, der an einer roten Ampel stehenbleibt und dann quietschend anfährt, als sie plötzlich grün wird.
    «Eigentlich nicht», antwortet er schließlich. «Ich glaube, ich habe immer gewusst, dass er uns gegeben hat, was er konnte, und als er nicht mehr konnte, ging. Außerdem bin ich natürlich ein paar Jahre deswegen richtig schön abgestürzt.»
    «Darum der Knastaufenthalt wegen Marihuana.»
    «Ganz genau.» Er kichert. «Irgendwann war ich es leid, darüber nachzugrübeln und so
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