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Ein Sommer und ein Tag

Ein Sommer und ein Tag

Titel: Ein Sommer und ein Tag
Autoren: Allison Winn Scotch
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Ihre Stimme bricht. «Natürlich wusste ich, dass er seine Launen hatte, aber er hat nie …»
    «Weißt du, was ich höre? Ich höre eine riesenlange Latte fauler Ausreden. Ich höre eine Mutter, die sich ihren Töchtern gegenüber vor zwanzig Jahren nicht richtig verhalten hat und die sich gegenüber einer von ihnen auch im letzten Jahr nicht richtig verhalten hat.» In mir kocht es plötzlich vor Wut, brodelt es vor Zorn, weil sie hier sitzt und sich immer noch weigert, Verantwortung zu übernehmen, das Gewicht meines Erbes noch immer nicht erkennt. Auch wenn ich weiß, dass ich mehr bin als mein Zorn, dass ich diesen Zorn loslassen muss, will ich mich jemals weiterentwickeln. «Ich sehe eine Mutter, die aus ihren eigenen beschissenen Fehlern nicht das Geringste lernt! Und mich stattdessen dazu gezwungen hat, ihre Fehler zu wiederholen, als ich am allerverletzlichsten war! Meinen eigenen, untreuen Scheißehemann zurückzunehmen. Verdammt noch mal!»
    «Du verstehst das nicht!» Sie steht jammernd auf. «Es war nicht ich allein. Das warst du genauso!»
    «Versuch ja nicht, mich zur Komplizin deiner widerlichen Spielchen zu machen! Erzähl mir nicht, ich hätte gewusst, was ich tue, als du mir was von Verzeihen erzählt hast. Ich war nämlich nach diesem beschissenen Flugzeugabsturz verdammt noch mal so unschuldig und unwissend wie ein neugeborenes Kind! Wie kannst du es wagen, mich für meine Entscheidungen verantwortlich zu machen, obwohl ich keinerlei Informationen zur Entscheidungsfindung hatte – abgesehen von dem, was du mir erzählt hast!»
    «Nein, nein», widerspricht sie etwas ruhiger und setzt sich wieder hin. «Das meine ich nicht. Ich meinte, bei deinem Vater.» Sie seufzt und versucht, sich zu sammeln. «Nachdem ich euch damals hier weggeholt habe, hast du dich geweigert, darüber zu sprechen. Geweigert, es auch nur zuzugeben. Du warst unglaublich wütend auf mich, weil ich dir deinen Sommer hier verdorben habe, weil ich dich gezwungen habe, mitzukommen. Unglaublich wütend.»
    Ich runzle die Stirn und versuche, mich zu erinnern – wie viel davon ist wieder ihre eigene Sicht der Dinge?
    Kleine Erinnerungsfetzen kommen mir ins Gedächtnis: die Heimfahrt, die heiße Plastikrückbank im Auto, an der ich mir die Beine verbrannte, Rory, die auf dem Vordersitz saß und ständig den Radiosender wechselte, das Rauschen zwischen den Sendern, das an meinen sowieso schon zum Reißen gespannten Nerven zerrte. Die Blutergüsse waren deutlich zu sehen, und ich trug eins von Wes’ langärmeligen Lacrosse-Shirts, als würde das, was man nicht sah, nicht existieren. Ich starrte den Hinterkopf meiner Mutter an, die Strähnen in ihrem Nacken, die sich aus dem Pferdeschwanz gelöst hatten, und wünschte mir von Herzen, sie wäre tot. Ein Wunsch, wie ihn nur Teenager haben können. Ich wünschte, du wärst tot! Ich beobachtete die im Fahrtwind wehenden Haare, während ich Bob Dylans dissonantem Gesang lauschte – «May your heart always be joyful, may your song always be sung, and may you stay forever young»  – und mir ausmalte, auf welche Weise ich sie am besten verstümmelte.
    «Weiter», fordere ich sie auf, weil die von ihr angestoßene Wahrheit beginnt, in mir zu keimen.
    «Ich habe versucht, dich zu einem Therapeuten zu bringen, was damals noch völlig ungewöhnlich war.» Sie kann einfach nicht anders und setzt plötzlich und mit Leichtigkeit doch wieder ihre alte Maske auf. Aber sie bemerkt ihren Fehler, räuspert sich und erzählt weiter: «Du wolltest nichts davon wissen. Du hast dich ins Gästehaus zurückgezogen, gemalt und gemalt – die Musik voll aufgedreht, genau wie er es auch immer gemacht hat. Es war, als wolltest du ihm damit irgendeine Botschaft schicken. Und dann kam dein Vater tatsächlich zurück – ein paar Wochen später tauchte er eines Tages plötzlich auf. Du bist raus in den Vorgarten gerannt und hast ihn fast verschlungen vor Glück. Hast ihm augenblicklich völlige Absolution erteilt. Ihr habt beide so getan, als wäre nie etwas geschehen.»
    «Und dann?», will ich wissen, obwohl ich eigentlich schon ganz genau weiß, was jetzt kommt. Würde ich nur tief genug in meinen Hirnwindungen graben, könnte ich die Geschichte selbst weitererzählen: dass mein Vater ein paar Monate blieb, seinen Kampf gegen die Dämonen kämpfte, die ihn fest im Griff hatten, und dass ich mich, als er schließlich endgültig ging, mit Vehemenz selbst belog – dass er zurückkommen würde, dass er mich
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