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Ein Sommer und ein Tag

Ein Sommer und ein Tag

Titel: Ein Sommer und ein Tag
Autoren: Allison Winn Scotch
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um meine eigene Schuld daran: weil es viel leichter gewesen ist, ihnen zu glauben, als die schwere Last zu schultern, was notwendig gewesen wäre. Wenn ich ihnen Vorwürfe mache, muss ich mir selbst auch einen Vorwurf machen. Obwohl das jetzt weder tröstlich noch hilfreich ist.
    «Wir haben nur versucht, zu helfen», fügt Rory an.
    «Blödsinn!», fahre ich sie an. «Ihr habt nur versucht, euch selbst zu helfen.»
    «Nelly», ergreift meine Mutter das Wort. «Bitte!»
    Ich schüttle den Kopf – wage es nicht, noch ein einziges Wort zu sagen – und wische mir mit dem Handrücken über die Nase. Dann wende ich mich ab und renne davon. Die Treppe hinunter, raus auf die Straße, weg, nur weg von dieser Katastrophe. Als ich die Stufen hinunterrase, kann ich meine Rippen spüren, die stumme Mahnung daran, dass meine Verletzungen zwar verheilt sein mögen, tief in mir aber jede Menge Narben geblieben sind.

[zur Inhaltsübersicht]
    32
    E twa eine halbe Stunde später finde ich mich in einem netten kleinen Café in der Stadt wieder. In der Eile habe ich meinen Geldbeutel vergessen, aber die Frau an der Kasse, die eine Kellnerinnenuniform trägt, auf der mit blauem Faden der Name Mimi gestickt ist, mustert mich kurz und sagt: «Hallo, ich kenne Sie doch. Sie sind Francis Slatterys Kleine.»
    «Ja. Ich war im Fernsehen», seufze ich und ziehe mir einen Stuhl heran. Die Metallbeine scharren quietschend über den Fliesenboden. Ich denke an Jamie und an sein falsches Spiel und überlege, dass ein Teil von mir von ihm betrogen werden wollte. Wie konnte ich glauben, dass die Operation Freiheit für Nell Slattery so einfach sein würde? Als ob ich wirklich nichts anderes zu tun bräuchte, als mich einem völlig Fremden anzuvertrauen, um Antworten zu bekommen, die nur ich selbst mir geben kann. Wenn ich zurück bin, werde ich ihn anrufen. Ihm alles Gute wünschen, auch wenn wir niemals Freunde sein werden und er von mir kein bisschen Loyalität mehr bekommen wird.
    «Stimmt, ich hab Sie im Fernsehen gesehen», bemerkt sie und schenkt mir ohne zu fragen eine Tasse Kaffee ein. «Aber ich kann mich noch daran erinnern, wie Sie früher im Sommer immer hier waren.»
    «Ach wirklich?» Ich sehe sie prüfend an und frage mich, wie alt sie sein mag. Mitte fünfzig vielleicht. Ihr brauner Haarschopf sieht aus, als würde sie mit Duschhaube schlafen. Ihre Brüste sind zu groß für die zarte Figur, und ihre Haut ist irgendwie ledrig, aber es passt zu ihr. Vor allem aber sieht sie zufrieden aus. Zufriedenheit. Wie weit ich wohl noch gehen muss, um jemals dorthin zu gelangen. Es kommt mir vor, als hätte ich alles versucht: meine Kindheit annehmen, vor ihr weglaufen, so getan, als hätte sie nie existiert, und trotzdem, Zufriedenheit? Nein, Zufriedenheit habe ich bis jetzt noch nicht gefunden.
    «Sie und Wes haben ständig irgendwas angestellt», unterbricht sie meine Gedanken. «Ihr wart oft in der Stadt, seid mit den Rädern gekommen, um euch ein Eis zu holen.»
    «Und mein Vater? Haben Sie mal wieder was von ihm gehört?»
    «Ach, Herzchen! Der Zug ist abgefahren.» Sie nimmt einen schmuddelig wirkenden Lappen zur Hand und fängt an, die anderen Tische abzuwischen, obwohl ich der einzige Gast bin und die wie ausgestorben daliegende Hauptstraße darauf schließen lässt, dass sich diesen Vormittag auch nichts mehr daran ändern wird.
    «Ich weiß», seufze ich. «Aber ich dachte, ich frag trotzdem mal.» Ich nippe am Kaffee und verbrenne mir die Zunge.
    «Ich habe ihn vor ein paar Jahren hier gesehen», nimmt sie die Unterhaltung wieder auf, von der ich dachte, sie sei zu Ende. «Als Heather krank war.» Sie zuckt kaum merklich zusammen. «Gott sei ihrer Seele gnädig. So was hat niemand verdient.»
    «Krebs oder meinen Vater?»
    Sie starrt mich an, und ich hoffe, sie nicht beleidigt zu haben.
    «Ach, Kind, Krebs natürlich! Heather und Ihr Vater – Ihre Mutter natürlich auch – waren doch erwachsene Menschen, die wussten, worauf sie sich einließen.»
    «Und was ist mit dem Rest von uns?»
    In meiner Erinnerung spüre ich immer noch das Wasser über mir zusammenschlagen, das kalte, trübe Wasser, an jenem Tag am See, spüre ich, wie es an meine Wangen schlägt, mich fast erstickt, mich nach unten zieht, zum Grund. Gott weiß, was da am Grund lauerte. Und auch wenn ich weiß, dass ich bewusstlos war, dass ich keine echte Erinnerung an diesen Moment haben kann, weil mein Bewusstsein abgeschaltet war, frage ich mich, ob es nicht trotzdem
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