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Die Kinder des Saturn

Die Kinder des Saturn

Titel: Die Kinder des Saturn
Autoren: Stross Charles
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überleben lernen
    SO WEIT ICH ES RICHTIG DATIEREN KANN, ist es heute zweihundert Jahre her, dass meine Einzig Wahre Liebe endgültig ausstarb. Ich habe mir mit Batteriesäure einen Rausch angetrunken, mich in meine besten Partyklamotten geworfen und sitze jetzt auf dem Balkon eines Vergnügungspalastes, der in der Stratosphäre der Venus treibt. Meine Füße baumeln über einer glitschigen Regenrinne, während ich über den Rand spähe. Dreißig Kilometer unter meinen Fersen sehe ich die rot glühenden, mit Metall übersäten Gebirgsausläufer von Maxwell Montes. Ich überlege, ob ich springen soll. Zumindest würde ich eine hübsche Leiche abgeben, sage ich mir. Bis ich schmelze.
    Und dann …

    Ich liebäugele nicht leichtfertig mit dem Selbstmord.
    Ich bin alt, zynisch und habe einen Charakterfehler, der darin besteht, dass ich nicht scharf aufs Sterben bin. Selbstverständlich habe ich diesen Fehler mit meinen noch lebenden Geschwistern gemein. Unter uns Schwestern gilt das, was uns Rhea – unsere Kopiervorlage und Matriarchin – überliefert hat, als sakrosankt: Durchlebt jeden Tod in der Schwesternschaft, befahl sie mit eiserner Entschlossenheit, und ich ehre ihr Andenken. Jedes Mal, wenn eine von uns stirbt, bergen wir ihren Seelenchip und lassen ihn in unserem Kreis, dem ständig schrumpfenden Kreis trauernder Schwestern, kursieren. Das Ende einer Schwester mitzuerleben
und nachzuvollziehen tut zwar weh, ist aber nötig. Wenn regelmäßig andere stellvertretend für einen selbst den Tod erleiden, bleibt man wachsam. Man lernt dabei mühelos, die Anzeichen dafür zu deuten, dass einem jemand nach dem Leben trachtet.
    (Letzteres ist ein bisschen zu stark formuliert. Schließlich sind wir so nett und gefallsüchtig, dass nur wenige uns gegenüber Mordlust verspüren, es sei denn, wir befinden uns in einer depressiven Phase. Sehen Sie mir das bitte nach.)
    Allerdings fällt uns allen das Weitermachen von Tag zu Tag schwerer. Wir sind so alt, dass wichtige Jahrestage durchaus einen verhängnisvollen Reiz auf uns ausüben. Geburtstage bringen unangenehme Erinnerungen mit sich, und wenn die besten Tage bereits gekommen und gegangen sind, warum dann noch am Leben hängen? In meiner Sippe ist diese Betriebsstörung weit verbreitet: Erst werden wir nostalgisch, dann versinken wir im Gefühl völliger Sinnlosigkeit, und schließlich beschäftigen wir uns zwanghaft mit dem Tod. In der letzten Seelenqual unserer Schwestern, kurz vor ihrem Ableben, erkennen wir Zuschauerinnen zu unserem Entsetzen einen Teil dessen wieder, was am Ende auf uns alle zukommt. Durchlebt jeden Tod in der Schwesternschaft – es ist schon eine bittere Ironie des Schicksals, dass Rhea, das Original, dessen Kopien wir alle darstellen, eine der Ersten war, die uns diese schreckliche Last aufbürdete.
    Und so gebe ich heute meine sorgfältig gehorteten Ersparnisse dafür aus, mich an den Rand eines Balkons oberhalb eines Kasinos zu hocken, in dem sich gut gelaunte Spieler drängen. Denn heute ist, soweit ich das behaupten darf, mein hundertneununddreißigster Geburtstag. Genau einundsechzig Jahre, nachdem eine grausame Laune des Schicksals die Existenz eines Wesens meiner Art für alle Zeiten völlig sinnlos machte, erlebte ich meine Wiedergeburt und erwachte im realeren Sinne als beim ersten Mal zum Leben.
    Der rötlich glühende Boden weit unter mir bildet einen Kontrapunkt zu den aufwallenden Wolken über meinem Kopf. Während ich hinunterblicke, sinniere ich über den ewigen Tod und
versuche mir einzureden, dass diese Endgültigkeit immer noch eine erschreckende Vorstellung ist.
    Die Situation könnte ja noch schlimmer sein als jetzt, sage ich mir. Ich bin nicht mehr elf; ich habe die freie Wahl.
    Und dann …

    Eine Lachsalve und ein Schwall kühler Luft, die durch eine offene Tür dringen, sowie das schwache Vibrieren des Fußbodens unter schweren Schritten verraten mir, dass ich hier draußen nicht mehr allein bin, und das nervt mich. Den größten Teil dieses Arbeitsjahres habe ich still und zurückgezogen verbracht. Und ausgerechnet jetzt, da ich mit meinen Erinnerungen und den Wolken allein sein will, bekomme ich plötzlich Gesellschaft.
    »Oh, seht mal: ein Monster!«, schreit jemand in meinem Rücken zu mir herauf. »Was macht dieses Ding denn hier?«
    Am besten gar nicht beachten. Ich will deren einprogrammierte Verhaltensmuster ja nicht noch verstärken. Trotzdem spanne ich mich an, und meine Kampf- und Fluchtreflexe setzen ein.
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