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Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben
Autoren: Derek B. Miller
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Haus eingeschlagen, auf das er nun von links und Hunderte Meter im Wald versteckt zuschleicht. Ein jüngerer Mann hätte sich vielleicht solche Sorgen um Rhea gemacht, dass ihm ein kleines Messer als Waffe gereicht hätte. Doch Sheldon ist kein jüngerer Mann. Er kann niemanden mehr niederringen. Im Sitzen kann er gerade mal das Messer durch die Baumwollwand eines Seesacks stechen.
    Wenn wir in einen Wald schauen, um die Quelle eines Geräuschs zu finden, schauen wir in die Zwischenräume. Zwischen die Bäume, dorthin, wo das Licht durchscheint. Zwischen die Zweige, um ein Fetzchen blauen Himmel zu erhaschen oder die grauen und silbernen Linien des Firmaments. Unsere Augen suchen das Licht und ersehnen etwas, das uns von der Dunkelheit der Wildnis wegführt.
    Sheldon bewegt sich also im Schatten. Er presst sich an Baumstämme. Er legt sich eine Weile flach hin, wenn der Untergrund uneben ist, und wird zum Waldboden. Er benutzt seine Knie und Ellbogen, um sich wieder aufzurichten, denn er hat nicht mehr genügend Kraft in den Brustmuskeln, um sich damit abzustützen.
    Wie viel Zeit mag vergangen sein?
    Ungefähr eine Stunde. Vierzig Minuten hat er für den Tarnanzug gebraucht, und jetzt ist er seit zwanzig Minuten unterwegs. Ist das möglich? Es kommt ihm viel länger vor.
    Er würde sich erkälten, wäre es unter der Tarnmontur nicht so warm. Er hätte Handschuhe anziehen sollen. Das hatten sie ihm immer eingeschärft. Am besten aus Leder. Rennfahrer und Jockeys tragen Handschuhe, die den Schweiß aufsaugen, damit sie die Zügel besser im Griff haben. Metallarbeiter und Waldarbeiter tragen welche. Gärtner und Freizeitkletterer.
    Was für weiche Hände, hatte Mabel damals geflüstert.
    Jetzt nicht mehr. Sie sind ganz schwielig und voller Narben. Sie sind blutig und einsam. Sie berühren einander nur noch selten. Sie haben sich entwöhnt. Es gibt nicht mehr so viel zu beklatschen.
    Die meisten Männer in seiner Einheit schnitten den Zeigefinger ihrer Handschuhe ab und streiften ihn anschließend wieder über. So konnte man ihn zwar verlieren und einen kalten Finger bekommen, was auch – wenn auch selten – passierte. Aber Handschuhe zu tragen war wichtig, alle Männer wussten es. Es war die beste Möglichkeit, seine Finger geschmeidig und warm zu halten. Die Scharfschützen schützten ihre Hände wie Chirurgen. Wie Geiger oder Pianisten, die niemals heiße Gerichte aus dem Ofen nehmen.
    Sie streiften den Lederfinger erst im letzten Augenblick vor dem Töten ab.
    Sheldon blickt sich um und betrachtet die Wegstrecke, die er zurückgelegt hat. Er ist stolz auf sich. Kleider machen eben doch Leute. Ein Soldat sieht aufrechter aus in Uniform. Ein Arzt hat mehr Autorität in seinem weißen Kittel. Der Scharfschütze kriecht flacher. Ist listiger. Wagt sich näher ran.
    Das rote Haus bewegt sich wie die Sonne über den Horizont. Er hat es über seinen ganzen waldbestandenen Himmel verfolgt, und nun ist es zu seiner äußersten Rechten zum Stehen gekommen. Es ist größer, als er erwartet hat. Er hat sich immer eine aus einem einzigen Raum bestehende Hütte aus grobem Kiefernholz mit einem steilen Dach vorgestellt. Eine Art Schuppen oder eine Hundehütte auf einer schneeverwehten Tundra, die auch im Sommer nie auftaut. Ein kleines Foto am Kühlschrank auf dem Weg zu seinem Eiskaffee.
    In Wirklichkeit ist es viel größer, Wohnraum, zwei Schlafzimmer und ausgebautes Dachgeschoss vielleicht. Es steht leicht erhöht auf kleinen Pfählen, sodass man unter dem Haus hindurchkriechen könnte. Vermutlich soll es dadurch trocken gehalten werden und nach Regen und Schneeschmelze Wasser abfließen können.
    Zwei Stufen führen direkt zu der geschlossenen Tür. Er ist viel zu weit entfernt, um Fußspuren zu erkennen, aber die Situation ist auch so eindeutig. Lucifers Schritte führten vom Wald zurück zum Auto, aber Mr. Apple und der Holzfäller haben die Szenerie nur einmal verlassen.
    Sie können nirgendwo anders hingegangen sein. Sie sind im Haus.
    Nachdem er das Motorrad im Graben hat liegen sehen, kann Sheldon nur hoffen, dass Rhea und Lars auch da sind.
    Ein Stück weiter und … ist es das? Er checkt die Stelle mit dem Fernglas. Eine gerade Kante. Eindeutig von Menschenhand geschaffen. Ein Gebäude, hundert Meter vom Haupthaus entfernt. Sheldon kriecht über Heidelbeergestrüpp und herabgefallenes Birkengeäst. Er macht einen Bogen um einen toten Dachs, dankbar, dass keine Krähen in der Nähe sind, die auffliegen und seinen
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