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Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Titel: Ein Rückblick aus dem Jahr 2000
Autoren: Edward Bellamy
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auf den ich nichts ant worten konnte, erst da ward mir die ganze erschüttern de Furchtbarkeit des geschehenen Zerstörungswerks bewußt. Zerknirschung und Seelenangst bemächtigten sich meiner, denn auch ich hatte bisher zu denen gehört, die duldeten, daß solche Dinge geschahen. Auch ich war einer von denen gewesen, die recht gut wußten, welch unsägliches Elend existiert, wie unheilvolles in seiner Wirkung ist, und die trotzdem nichts davon hö ren, nicht daran denken wollen, sondern nur ihrem eigenen Vergnügen und Vorteil nachgehen. Darum sah ich jetzt auf meinem Gewand das Blut der unzähligen gemordeten Seelen meiner Brüder, Die Stimme ihres Blutes schrie gegen mich von der Erde. Jeder Stein des schmutzigen Pflasters, jeder Ziegel der Pesthöhlen hat te eine Zunge und schrie mir nach, als ich von dannen floh: „Was hast du mit deinem Bruder Abel getan?“
    Ich kam erst wieder zu mir, als ich auf der kunstvoll gemeißelten Steintreppe des prachtvollen Hauses meiner Verlobten in der Commonwealth-Avenue stand. In dem Aufruhr meiner Gedanken hatte ich an jenem Tage kaum einmal an Edith Bartlett gedacht; einem unbewußten Triebe gehorchend, hatten jedoch meine Füße den wohlbekannten Weg zu ihrer Tür gefunden. Ich erfuhr, daß die Familie bei Tische sei und mich ersu chen lasse, mit ihr zu speisen. Außer der Familie traf ich mehrere Gäste an, die mir alle bekannt waren. Die Tafel trug funkelndes Silbergeschirr und kostbares Porzellan. Die Damen waren prächtig gekleidet und mit Juwelen wie Königinnen geschmückt. Ein Bild der höchsten Eleganz und des verschwenderischsten Luxus trat mir entgegen. Die Gesellschaft befand sich in trefflichster Laune, man lachte viel und herzlich, und ein ununterbrochenes Feuer von Witzworten flog hin und her.
    Mir war zumute, als sei ich von einer Richtstätte gekommen, deren Anblick mein Blut in Tränen verwandelt, mich mit Trauer, Mitleid und Verzweiflung erfüllt hatte, und als sei ich nun plötzlich in einer Lichtung auf einen lustigen Trupp lärmender Gesellen gestoßen. Schweigend saß ich da, bis mich Edith wegen meiner finsteren Miene zu necken begann. Was konnte mir nur fehlen? Die übrige Gesellschaft beteiligte sich sofort an den mutwilligen Angriffen, und ich ward zur Zielscheibe ihrer Sticheleien und Scherze. Wo konnte ich nur gesteckt, was konnte ich nur gesehen haben, daß solch ein Griesgram aus mir geworden war?
    „Ich bin auf Golgatha gewesen“, antwortete ich endlich. „Ich habe die Menschheit gekreuzigt gesehen. Weiß niemand von euch, auf welche Szenen die Sonne und die Sterne in dieser Stadt herabblicken, daß ihr an etwas anderes denken, von etwas anderem reden könnt? Wißt ihr nicht, daß dicht an euren Türen ungezählte Massen von Männern und Frauen, Fleisch von eurem Fleisch und Bein von eurem Bein, ein Leben führen, das von der Wiege bis zum Grabe nur ein langer Todeskampf ist? Horcht! Ihre Wohnstätten sind ganz nahe. Wenn euer Lachen schweigt, so vernehmt ihr die furchtbaren anklagenden Stimmen: das Jammergeschrei der Kleinen, die am Hungertuch saugend verschmachten; die heiseren Flüche der Männer, die im Elend halb vertieren und zugrunde gehen; das Feilschen eines Heeres von Weibern, die sich um Brot verkaufen. Womit habt ihr eure Ohren verstopft, daß ihr diese Stimmen nicht hört? In meinem Ohr übertönen sie alles, alles, ich höre nur sie.“
    Schweigen folgte meinen Worten. Mein ganzes Wesen war von leidenschaftlichem Mitgefühl durchbebt, während ich sprach. Als ich jedoch auf die Gesellschaft rund um mich blickte, konnte ich mir nicht verhehlen, daß sie nicht im geringsten von meinen Worten ergriffen war. Ich begegnete nur Mienen, die kaltes, herzloses Staunen verrieten, das auf Ediths, Antlitz mit dem Ausdruck tiefsten Gekränktseins gepaart war, auf dem ihres Vaters mit allen Anzeichen heftigen Zornes. Die Damen tauschten beleidigte Blicke aus, während einer der Herren sein Glas ins Auge klemmte und mich mit einer Art wissenschaftlicher Neugier musterte. Als ich sah, daß Zustände, die mir unerträglich in die Seele schnitten, die Tafelnden nicht zu rühren vermochten, daß Worte, die sich mir aus dem tiefsten Herzen auf die Lippen drängten, sie nur gegen mich aufbrachten, war ich zuerst bestürzt, dann aber überkam mich ein Gefühl der Verzweiflung und Ohnmacht. Was war für die Unglücklichen, was war für die Menschheit zu hoffen, wenn denkende Männer und empfindsame Frauen von solchen Dingen nicht erschüttert
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