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Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Titel: Ein Rückblick aus dem Jahr 2000
Autoren: Edward Bellamy
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Gerechtigkeit gereinigt und durch brüderliche Liebe beglückt sei – von der Welt, die ich zwar nur im Traume geschaut hatte, die aber so leicht verwirklicht werden konnte.
    Ich hatte erwartet, daß die Gesichter um mich sich nun sicherlich aufhellen und ähnliche Gefühle widerspiegeln müßten, wie sie mich selbst beseelten. Allein was sah ich? Die Gesichter wurden nur finsterer, zorniger und höhnischer. Statt Begeisterung zeigten die Damen nur Abscheu und Schrecken, und die Herren unterbrachen mich mit lauten Ausrufen der Entrüstung und Verachtung. „Verrückter! Fanatiker! Feind der Gesellschaft!“ schrien sie mir zu, und der Mann mit dem Glase im Auge rief unter lautem Gelächter: „Er behauptet, es solle keine Armen mehr geben! Ha, ha, ha!“ „Werft den Menschen hinaus“, befahl der Vater meiner Braut, und kaum hatte er das gesagt, so sprangen die Männer von ihren Stühlen empor und drangen auf mich ein.
    Mir war es, als ob mein Herz brechen sollte vor Schmerz darüber, daß den anderen als bedeutungslos erschien, was für mich so klar, selbstverständlich und von alles überragender Wichtigkeit war, und daß ich mich ohnmächtig fühlte, es zu ändern. So heiß hatte mein Herz empfunden, daß ich wähnte, mit seiner Glut einen Eisberg schmelzen zu können, und nun fühlte ich rings um mich eine übermächtige, eisige Kälte, die mein eigenes Innere erstarren machte. Dennoch war es nicht Feindseligkeit, was ich gegen diese Leute empfand, die auf mich eindrangen, sondern nur Mitleid; Mitleid mit ihnen selbst und mit der Welt.
    Obwohl verzweifelnd, konnte ich mich doch nicht ergeben. Ich rang mit den Männern. Tränen stürzten aus meinen Augen. Meine Aufregung war so. groß, daß ich nicht mehr zusammenhängend und vernehmlich sprechen konnte. Ich keuchte, ich schluchzte, ich stöhnte und fand mich plötzlich aufrecht sitzend in meinem Bett in dem Zimmer, das ich in Doktor Leetes Hause bewohnte. Die Morgensonne schien mir durch das geöffnete Fenster voll ins Gesicht. Ich atmete schwer. Tränen strömten über meine Wangen, und jede Fiber meines Körpers bebte.
    Meine Rückkehr ins neunzehnte Jahrhundert war also nur ein Traum gewesen, mein Dasein im zwanzigsten Jahrhundert hingegen blieb Wirklichkeit. Als ich das erkannte, da war mit zumute wie einem entflohenen Sträfling, der geträumt, daß man ihn wieder eingefangen und in seinen finsteren, feuchten Kerker zurückgebracht habe, und der nun plötzlich, als er die Augen aufschlägt, das weite Himmelsgewölbe über sich erblickt.
    Die grausen Szenen, die ich in meinem Traum geschaut hatte und die Eindrücke aus meinem früheren Dasein getreulich widerspiegelten, sie waren für immer vorbei. Aber doch waren sie einst Wirklichkeit gewesen, eine Wirklichkeit, die bis ans Ende aller Zeiten jeden zu Tränen des Mitleids rühren wird, der aufs neunzehnte Jahrhundert zurückblickt. Schon lange waren Unterdrücker und Unterdrückte, Propheten und Spötter zu Staub zerfallen. Seit Generationen schon waren die Worte „arm“ und „reich“ in Vergessenheit geraten.
    Während ich noch voll unaussprechlicher Dankbarkeit darüber nachdachte, welch herrliches Werk die Erlösung der Menschheit sei, und wie groß mein Glück, sie zu schauen, da durchdrang plötzlich einem Messer gleich ein schneidender Schmerz meine Seele. Scham, Gewissensbisse und heftige Selbstanklagen mischten sich in ihm. Unter der Wucht dieser Gefühle ließ ich mein Haupt sinken und wünschte, daß das Grab mich ebenso verschlungen haben möchte wie meine Zeitgenossen. Denn ich selbst war nichts Besseres gewesen als ein Kind jener alten Zeit. Was hatte ich für die Befreiung der Welt geleistet, an der ich Vermessener mich jetzt erfreuen wollte? Ich, der ich in jenen furchtbaren Tagen des Wahnsinns lebte, hatte ich etwas getan, um ihnen ein Ende zu bereiten?, Wie jeder andere meiner Freunde war ich gleichgültig geblieben gegen das Elend meiner Brüder, hatte ich zynisch jede Möglichkeit besserer Gesellschaftszustände verlacht, war ich ein gedankenloser Anbeter des Chaos und der Finsternis gewesen. So weit meine persönliche Macht gereicht, hatte ich sie eher darauf verwendet, die sich anbahnende Befreiung des Menschengeschlechts zu hindern als zu fördern. Mit welchem Rechte konnte gerade ich eine Erlösung begrüßen? Mußte ich mir nicht vorwerfen, daß ich das Dämmern eines Tages verspottet hatte, dessen Sonnenschein ich jetzt genießen wollte!
    „Besser für dich, ja besser für
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