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Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Titel: Ein Rückblick aus dem Jahr 2000
Autoren: Edward Bellamy
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vorüber. Das war der erste Anblick an jenem traurigen Tage, der andere Gefühle als verwundertes Mitleid und grenzenloses Staunen in mir erweckte. Hier endlich traten mir Ordnung und Vernunft entgegen, eine Veranschaulichung dessen, was verständiges, einheitliches Zusammenwirken zu leisten vermag. War es denn möglich, daß die entzückten Zuschauer in dem Anblick tatsächlich nichts weiter sahen als nur ein Schauspiel? Lehrte er sie nicht, daß diese Männer hier nur dank ihrer Organisation unter einheitlicher Leitung, dank vollkommen einmütigen Zusammenwirkens zu einer furchtbaren Maschine wurden, die einen zehnmal so zahlreichen Volkshaufen zu bezwingen imstande war? Und wenn ihnen dies klarwurde, mußten sie nicht Vergleiche darüber anstellen, daß die Nation wohl nach wissenschaftlichen Regeln in den Krieg zog, daß sie jedoch in wenig wissenschaftlicher Weise an die Arbeit ging? Mußten sie nicht fragen, seit wann es für weit wichtiger gelte, Menschen zu töten als Menschen zu ernähren und zu bekleiden, so daß man zur ersten Aufgabe ein geschultes Heer für nötig erachtete, während man die letztere einem wirren Menschenhaufen überließ?
    Der Abend brach herein, und die Straßen füllten sich mit Arbeitern, die aus Magazinen, Werkstätten und Fabriken kamen. Ich ließ mich von dem Menschenstrom forttragen und befand mich beim Anbruch der Dunkelheit inmitten einer Stätte von Schmutz und Verkommenheit, wie sie nur im Arbeiterviertel von Süd-Boston angetroffen werden konnte. Hatte ich vorher die wahnwitzige Vergeudung menschlicher Arbeit gesehen, so trat jetzt als Folge jener Vergeudung das Elend in seiner gräßlichsten Gestalt an mich heran.
    Übelriechende, verpestete Luft quoll aus den schwarzen Tür- und Fensterhöhlen der verwahrlosten Häuser, die sich zu beiden Seiten der Straße hinzogen. Ober den Straßen und Gäßchen lagerten Ausdünstungen, wie sie dem Zwischendeck von Sklavenschiffen eigentümlich zu sein pflegten. Im Vorübergehen streifte mein Blick bleiche Kinder, die da drinnen inmitten einer schmutzigen, vergifteten Atmosphäre dahinsiechten; er ruhte auf Frauen, auf deren Antlitz kein Strahl von Hoffnung leuchtete, die durch Mühsal und Entbehrungen entstellt waren und von der Weiblichkeit nichts zurückbehalten hatten als die Schwäche. Aus den Fenstern schielten Dirnen mit dreisten Mienen. Den Rudeln hungriger, verwilderter Hunde gleich, die die türkischen Städte unsicher machten, balgten und wälzten sich Scharen halbnackter, verrohter Kinder zwischen den Haufen von Unrat, die die Höfe bedeckten; sie erfüllten die Luft mit ihrem Schreien und Fluchen.
    Nichts von alledem war mir neu. Oft schon war ich durch diesen Stadtteil gewandert, oft schon hatte ich die Bilder geschaut, die sich heute vor meinen Blicken entrollten. Sie hatten mir bisher nie mehr als ein Gefühl von Ekel eingeflößt, das sich mit einem gewissen philosophischen Staunen über die Zähigkeit mischte, mit der sich die Sterblichen an das Leben klammern und lieber das höchste Maß des entsetzlichen Elends ertragen, als daß sie es wegwerfen. Aber seit jener Vision eines anderen Jahrhunderts war es mir wie Schuppen von den Augen gefallen, und ich erkannte nun nicht nur die wirtschaftlichen Torheiten meiner Zeit, sondern auch ihre moralischen Greuel. Ich betrachtete nicht mehr mit hartherziger Neugier die unglücklichen Bewohner dieser Hölle wie Wesen, die kaum zum Menschengeschlecht gehörten. Ich sah in ihnen meine Brüder und Schwestern, meine Eltern und Kinder, Fleisch von meinem Fleisch und Blut von meinem Blut. Der Anblick des mich umringenden menschlichen Jammers verletzte jetzt nicht nur meine Sinne, er schnitt mir wie ein Messer durchs Herz, so daß ich laut aufstöhnte, und ächzte. Ich sah nicht nur, ich fühlte tatsächlich alles, was ich sah.
    Jetzt erst, als ich die unglückseligen Geschöpfe um mich her näher betrachtete, bemerkte ich, daß sie bereits alle tot waren. Ihre Leiber waren ebenso viele lebendige Gräber. Auf jeder der vertierten Stirnen stand das „Hier ruht“ einer gestorbenen Seele.
    Als ich von Entsetzen ergriffen von einem Totenkopf zum anderen blickte, hatte ich eine seltsame Halluzination. Ich sah, wie ein durchsichtiges Geisterantlitz herbeischwebte und sich über jede dieser vertierten Masken legte; ich sah das ideale Antlitz, das das wirkliche gewesen wäre, wenn Geist und Seele gelebt hätten. Erst als ich diese geisterhaften Gesichter sah und den Vorwurf in ihren Augen,
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