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Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Titel: Ein Rückblick aus dem Jahr 2000
Autoren: Edward Bellamy
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erschienen sein. Allein seitdem war ich in einer neuen Welt gewesen, die unendlich reicher als die alte war, und die doch weder Geld besaß, noch brauchen konnte. Was hatte ich seitdem nicht alles gelernt! Ich wußte nun, warum man sich des Geldes in der Gesellschaft bedienen mußte, in der ich geboren war. Die Erzeugung alles dessen, was die Nation bedurfte, betrachtete man hier noch immer nicht als eine Sache, die von der höchsten öffentlichen und allgemeinen Wichtigkeit war, so daß der Staat sie übernehmen und leiten mußte. Man hielt sie für eine bloße Privatangelegenheit und ließ sie folglich aufs Geratewohl in den Händen von Privatpersonen. Dieser Grundfehler machte einen endlosen Tauschverkehr nötig, damit die Waren nur einigermaßen an die Verbraucher gelangten. Diese Tauschgeschäfte wurden durch das Geld vermittelt. In wie gerechter und billiger Weise, konnte man sehen, wenn man von den ärmeren Stadtteilen der Mietskasernen zu den reichen Villenvierteln hinüberspazierte! Der Gebrauch des Geldes entzog aber das ganze Heer des Personals in Bank- und Finanzinstituten aller Art der produktiven Arbeit, er förderte die verderblichsten Krisen des Wirtschaftslebens, er übte einen so entsittlichenden Einfluß auf die ganze Menschheit, daß sich das alte Wort als wahres Wort erwies: „Geld ist die Wurzel alles Übels.“
    Armer alter Bankdirektor mit deinem Gedicht! Er hielt das Zucken eines Geschwüres für das Pochen des Herzens! Was er einen „wundervollen Mechanismus“ nannte, war nur der unvollkommene Versuch, einen vermeidbaren Fehler zu verbessern; war die plumpe Krücke eines Krüppels, der sich selbst verstümmelt hatte.
    Nachdem die Banken geschlossen waren, wanderte ich mehrere Stunden lang ziellos durch das Geschäftsviertel umher und ließ mich später auf einer Bank der städtischen Anlagen nieder. Mit dem nämlichen Interesse, mit dem man die Bevölkerung einer fremden Stadt studiert, beobachtete ich die an mir vorbeidrängende Menge: so fremd waren mir seit gestern meine Mitbürger und ihre Sitten geworden. Dreißig Jahre lang hatte ich unter ihnen gelebt, und doch schien ich heute zum erstenmal zu bemerken, wie verzerrt und sorgenvoll die Gesichter waren, die der Reichen wie die der Armen, die feinen, scharfgeschnittenen Züge der Gebildeten wie die stumpfsinnigen Larven der Ungebildeten. Konnte es wohl anders sein? Deutlicher als je zuvor sah ich ja, daß sich ein jeder beim Gehen beständig umdrehte, um zu hören, was ein Gespenst flüsterte, das ihm auf dem Fuße folgte, das Gespenst der Unsicherheit. „Arbeite noch so tüchtig“, so flüsterte es, „stehe bei Tagesanbruch auf und mühe, dich bis in die Nacht; raube listig oder diene treu: du wirst doch nie das Gefühl der Sicherheit kennen. Du magst heute reich sein, morgen schon kann die Armut zu dir treten. Du kannst deinen Kindern die größten Schätze hinterlassen, und doch vermagst du nicht, dir die Sicherheit zu erkaufen, daß dein Sohn nicht einst der Diener deines Dieners wird und daß deine Tochter sich nicht um Brot verkaufen muß.“
    Ein Vorübergehender drückte mir eine Karte in die Hand, die die Vorteile einer neuen Art von Lebensversicherung anpries. Dadurch ward ich an das einzige Mittel erinnert, das den müden und abgehetzten Männern und Frauen meiner Zeit geboten ward, um sich wenigstens zum Teil gegen die sie umlauernde Unsicherheit zu schützen. Waren die Lebensversicherungen nicht ein ergreifendes Eingeständnis der allgemeinen Not, der sie in ganz armseliger Weise abhalfen? Durch sie konnten sich die bereits Wohlhabenden einen gewissen Grad von Sicherheit erkaufen, daß nach ihrem Tode ihre Lieben wenigstens eine Zeitlang nicht von anderen zu Boden getreten würden. Das war alles, das war nicht viel, und das wenige stand obendrein nur denen zur Verfügung, die dafür zahlen konnten. Wie wäre es auch möglich gewesen, daß die unseligen Bewohner des Landes Ismael {24} , wo die Hand eines jeden sich gegen jeden erhob, an die einzig wahre Lebensversicherung gedacht hätten, die ich in meinem Traumlande geschaut hatte? Dort allein war jeder Bewohner durch seine bloße Zugehörigkeit zur großen Familie der Nati on gegen jegliche Not geschützt, kraft einer Police, die die Unterschrift von hundert Millionen Mitbürgern trug.
    Ich entsinne mich weiter, daß ich bald darauf auf den Stufen eines Gebäudes in der Fremontstraße stand und einem militärischen Schauspiel zuschaute. Ein Regiment marschierte
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