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Ein Regenschirm furr diesen Tag

Ein Regenschirm furr diesen Tag

Titel: Ein Regenschirm furr diesen Tag
Autoren: Wilhelm Genazino
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Blätter aus Plastiktüten herauskippe. Ich suche mir eine abgelegene kleine Grünanlage und gehe zwischen zwei mannshohen Gebüschen hindurch. Genau zwischen den Gebüschen leere ich die Tüten. Jetzt schaue ich nach Lisas beziehungsweise nach meinem Konto. Seit meinem ersten gescheiterten Versuch einer Geldabhebung habe ich die kleine Bankfiliale nicht wieder betreten. Vorher kaufe ich mir in einer Bäckerei in der Dominikanerstraße ein frisches Weißbrot. Das Brot ist noch warm, es erinnert mich gleichzeitig an Lisas und an Susannes Körper. Momentweise bin ich verwirrt, aber dann bin ich mit der Gleichzeitigkeit einverstanden. Ich klemme mir das Brot unter den Arm und habe so den Geruch beider Frauen so nah wie möglich bei mir. In der Bank sehe ich neue Gesichter und neue Einzelheiten. Eine sehr junge Bankangestellte, die ich nie zuvor gesehen habe, beobachtet mich, wie ich das Formular einer Abhebung ausfülle. Ich schiebe ihr den Schein zu, außerdem meine Bankkarte. Die Angestellte prüft das Formular und meine Karte, in der Zwischenzeit sehe ich die Auszüge durch, die sich in den letzten Wochen angesammelt haben. Es ist so, wie ich vermutet habe: Lisa überläßt mir sozusagen als Abfindung für das Verlassenwerden (an dieser Version halte ich fest) das auf dem Konto angesammelte Geld, genauer: Lisas in den letzten beiden Jahren nicht aufgebrauchten Gehaltsreste. Die Bankangestellte hat festgestellt, daß meine Unterschrift und meine Karte echt sind und daß ich berechtigt bin, von Lisas Konto Geld abzuheben. Ich stecke das Geld ein und reagiere darauf mit einer leichten Durchwehung von Scham, die meinem Körper seit den Kindertagen vertraut ist. Draußen auf der Straße kann ich mich nicht länger zurückhalten, von dem Weißbrot eine Ecke herunterzubrechen. Ich bohre mit dem Zeigefinger im Brotlaib und stecke mir während des Gehens kleine Stücke des Teigs in den Mund.
    Der honigfarbene Himmel ändert bis zum Abend nicht seine Farbe. Susanne trägt ein einfach geschnittenes, hellgraues Kleid aus Chintz mit freien Schultern und halbfreiem Rücken. Um den Hals weht ein schwarzrotes Tuch. Kein Schmuck, keine Ohrringe, nicht einmal ein Armreif. Sie ist zurückhaltend geschminkt und gut gelaunt. Auf dem Marktplatz wird es als Höhepunkt des Sommerfestes eine Laser-Show geben. Susanne hat noch nie eine Laser-Show gesehen. Ich auch nicht, was ich Susanne nicht sage. Ich behalte außerdem für mich, daß ich nie eine Laser-Show habe sehen wollen. Ich nehme an, meine lebhaft empfundene Zwiespältigkeit macht mich moderner als die meisten anderen Sommerfestbesucher. Die gewaltige Lichtanlage, die auf der Mitte des Marktplatzes auf der Ladepritsche eines Sattelschleppers aufmontiert ist, macht Susanne und mich eine Weile stumm. Von hier aus werden in ein oder zwei Stunden bunte Lichtkegel in den Himmel geschickt. Rund um den Marktplatz stehen Sektbuden, Grillstände und Brezelhäuschen. An der linken Seite ist ein Open-Air-Kino aufgebaut. Die GANZE NACHT werden hier LUSTIGE ZEICHENTRICKFILME gezeigt. Am gegenüberliegenden Ende steht eine LIVE-BÜHNE, auf der später die WAVES spielen werden. Ein Organisator ergreift ein Mikrophon und nennt das ganze Gelände die PARTYMEILE. Mehr und mehr Menschen kommen aus den Seitenstraßen und verteilen sich auf dem Platz. Es sind vermutlich die Leute, die Frau Balkhausen das Erlebnisproletariat genannt hat. Ich schaue mir die Menschen an und schaue sie nicht an. Ich kenne sie und ich kenne sie nicht. Sie interessieren mich und sie interessieren mich nicht. Ich weiß schon zuviel von ihnen und ich weiß immer noch nicht genug. Susanne betrachtet braungebrannte Kellner. Sie sehen aus, als hätten sie alle eine Yacht am Mittelmeer, die sie im Augenblick gerade vermietet haben. Sie gehen vorsichtig, damit ihre weißen, fast bis auf den Boden reichenden Schürzen nicht beschmutzt werden. Junge Leute lachen mit dem Gesicht, ältere mit dem Körper. Wenn die Welt noch kritisiert werden könnte, müßte ich jetzt wahrscheinlich herausfinden, wer wen betrügt, benützt, täuscht, ausbeutet. Aber Messerschmidt will nur einen luftigen Artikel. Ein anderer Organisator nennt den Marktplatz die SPASSZONE. Zwei tätowierte Männer in Unterhemden und zerlumpten Hosen leeren gemeinsam eine Flasche Orangensaft. Die Männer tragen Ohrringe und Nasenringe und haben glattrasierte Schädel. Ihre Arme sind so dick wie die Plastikflasche, aus der sie Orangensaft trinken. Das Umherschweifen mit
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