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Ein Regenschirm furr diesen Tag

Ein Regenschirm furr diesen Tag

Titel: Ein Regenschirm furr diesen Tag
Autoren: Wilhelm Genazino
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Klimaanlage auch mit der Eintrocknung meiner Tränen beginnt.

11
    An einem späten Mittwochmorgen sammle ich die Blätter wieder ein, die ich in Lisas ehemaligem Zimmer ausgebreitet habe. In Kürze wird Susanne in meiner Wohnung ein und aus gehen, und ich habe kein Bedürfnis, mit ihr (oder mit sonst jemand) über abgelebte Irritationen zu reden. Auf dem einen oder anderen Blatt haben winzige schwarze Käferchen gelebt, die im Laufe der Tage von den Blättern heruntergefallen und in den Kunststoffasern des Teppichbodens umgekommen sind. Das heißt, mindestens zwei der höchstens stecknadelkopfgroßen Tiere treffe ich noch lebend an. Eine kleine Panik erfaßt mich und führt dazu, daß ich den Staubsauger aus dem Schrank hole und zuerst Lisas Zimmer, dann den Flur und danach die anderen Zimmer reinige. Ich glaube, es ist seit Lisas Verschwinden überhaupt das erste Mal, daß ich die Wohnung derart gründlich säubere. Ich brauche dazu fast eine Stunde. Am Ende sinke ich schweißnaß und leer auf einem Stuhl nieder. Aus dem Zentrum der Leere steigt nach ungefähr fünfzehn Minuten das Bild einer Kinderbelustigung empor, die mindestens so alt ist wie die Erinnerung an das Umhergehen in herabgefallenen Blättern. Vor mir oder in mir setzt sich ein Bewegungsablauf zusammen, in dessen Zentrum ein offener, ältlicher Kohlenwagen steht. Er biegt in die Straße ein, in der ich damals mit meinen Eltern gelebt habe, und hält vor einem der Mietshäuser. Es ist ein klappriger Pritschenwagen mit einfachen Ladeklappen, wahrscheinlich ein Opel Blitz oder ein Vorkriegs-Hanomag. Zwei von Kohlenstaub eingeschwärzte Männer, der Fahrer und sein Beifahrer, springen aus dem Führerhaus und öffnen die zur Hausseite hin gelegene Ladeklappe. Die Männer ziehen sich zwei noch viel schwärzere, kapuzenartige Hauben über den Kopf und fangen dann an, schwere Kohlensäcke, gefüllt mit Briketts, Koks oder Eierkohlen, von der Pritsche herunter- in einen Keller hinabzutragen. Ein paarmal versuchen die Männer, die Kohlen durch ein geöffnetes Kellerfenster von der Straße aus in den Keller hinabzustürzen. Der Versuch der Arbeitsersparnis gelingt nur schlecht. Viele Kohlen prallen gegen die Hauswand und bleiben auf dem Bürgersteig liegen. Es verbreitet sich eine riesige Kohlenstaubwolke. In diesen Augenblicken biege ich als Vierzehnjähriger um die Ecke und schaue mir das Schauspiel viel zu lange an. Schon nach kurzer Zeit komme ich zu dem Schluß, daß die vor mir ausgeschütteten Kohlen ein früher Beweis für die Unmöglichkeit des Lebens sind, obwohl ich mich gleichzeitig an der Ausbreitung des Schmutzes freue. Ich schaue den Kohlenmännern zu, bis sie mit ihrer Arbeit fertig sind, und freue mich auch auf das, was jetzt kommt. Eine ungeschickte Hausfrau tritt vor die Tür; sie hat einen Besen dabei und versucht, den Staub zusammenzukehren. Das gelingt nicht, ohne den Staub erneut aufzuwirbeln, obwohl ich einräumen muß, daß die Staubmenge durch das Kehren insgesamt abnimmt, wenn auch sehr langsam. Mindestens zehn Minuten lang bewegt sich die kehrende Frau schattenhaft und unermüdlich in dem von ihr selbst aufgescheuchten Kohlenstaub und verstärkt mein Gefühl von der Unmöglichkeit des Lebens. Gleichzeitig bin ich fasziniert vom Eindringen des Staubs in das Haar und in die Kleidung der Frau. Ich empfinde eine fremde Lust, die ich mir nicht erklären kann. Schon nach der Hälfte der Zeit hat mein verwandelndes Auge aus dem momentweisen Leben im Staub ein allgemein staubiges Leben gemacht, von dem ich nicht begreife, wie es von der großen Mehrheit aller Menschen so problemlos angenommen wird. Ich weiß heute nicht mehr, ob ich schon als Kind der Meinung war, das staubige Leben könne von mir nicht ohne weiteres angenommen werden. Beziehungsweise erst nach einem langen, weitschweifigen Genehmigungsverfahren, das bis heute anhält, aber vermutlich in Kürze abgeschlossen werden wird, wenn mein Instinkt mich nicht trügt. Erst jetzt, in diesen Augenblicken, fällt mir ein, daß ich damals vielleicht zum ersten Mal Opfer meines bedeutungsvollen Sehens geworden bin. Sofort möchte ich einen Kohlenwagen um die Ecke biegen sehen. In wehmütiger Benommenheit stelle ich mich hinter das Fenster in Lisas ehemaligem Zimmer und schaue auf die Straße hinab. In diesen Augenblicken läutet das Telefon. Am Apparat ist eine Frau, die sich Frau Tschackert nennt.
    Ich habe Ihre Nummer von Frau Balkhausen, die eine Kollegin von mir ist.
    Ahh so.
    Frau
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