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Ein Regenschirm furr diesen Tag

Ein Regenschirm furr diesen Tag

Titel: Ein Regenschirm furr diesen Tag
Autoren: Wilhelm Genazino
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Massenlangeweile oder eher eine Einzellangeweile?
    Wir befinden uns jetzt in einem richtigen Therapeutengespräch; ich kann weder Frau Balkhausen abbremsen noch mich selber.
    Wie war das bei Ihrem letzten Anfall von Langeweile; was war zuerst da: die eigene Öde oder die Öde der anderen?
    Bei meinem letzten … ja … wie war das, macht Frau Balkhausen, ach ja … o Gott … Tübingen … grauenvoll … ich geniere mich, darüber zu sprechen.
    Waren Sie allein? frage ich; ich tupfe mir den Schweiß der Verlegenheit von der Stirn. Frau Balkhausen beobachtet mich, aber sie hält, glaube ich, meine Transpiration für ein Zeichen von Seriosität und Vertiefung.
    Nein, sagt Frau Balkhausen, ich war mit meinem Freund unterwegs, er hatte einen Artikel gelesen über eine große Impressionisten-Ausstellung in der Tübinger Kunsthalle. Sofort habe ich gesagt: Da fahren wir hin! Die Impressionisten! Guter Gott! Endlich können wir einmal die Originale sehen. Wir haben uns richtig gefreut. Wir wollten eine Nacht bleiben, damit wir die Bilder am nächsten Tag noch einmal anschauen konnten. Einmal hingucken genügt ja nicht bei derartig berühmten Gemälden, nicht wahr?! Aber dann, nach stundenlanger Fahrt, haben wir in Tübingen die Kunsthalle betreten. Gleich rechts hing das Bild … äh … die Ernte heißt es oder wie, egal, dieses wunderbare Sommerbild, Sie werden es kennen! Da packte mich eine furchtbare Langeweile! Ich dachte: Guter Gott, Cézanne. Ich blickte nach links, dort hing ein anderes Sommerbild, den Titel habe ich nicht präsent, ich dachte: Diese Bilder hängen doch heute in jedem Klassenzimmer und in jedem Sekretariat, das kann man sich doch nicht mehr anschauen! Diese schlichte Wartezimmerkunst! Die Langeweile lähmte mich. Ich konnte kaum einen Schritt weitergehen. Dann habe ich meinen Freund angeschaut, der war in Gedanken schon wieder draußen. Er hatte sich schon während der Autofahrt gelangweilt. Er hatte nur den Mund gehalten, weil er mir den Spaß nicht verderben wollte. Und dann hat er gesagt, daß er sich schon auf der Autobahn das Gedränge vor den Bildern vorgestellt hätte, von allen Seiten wirst du angerempelt, sagte er, links ist eine Führung für Hausfrauen aus Reutlingen, rechts ist eine Führung für Hausfrauen aus Böblingen, von hinten riechst du den Schweiß alter Männer, und vor dir tobt eine Schulklasse aus Ravensburg! Kurz darauf haben wir uns ins Auto gesetzt und sind nach Hause gefahren.
    Ohne die Bilder gesehen zu haben?
    Ja, sagt Frau Balkhausen, ohne die Bilder gesehen zu haben.
    Frau Balkhausen ist von ihrer Erzählung halb erschöpft, halb bestürzt. Wir schweigen und schauen auf das vorüberziehende Wasser. Ein kleiner Holztisch treibt mit den Beinen nach oben an uns vorbei. Ich überlege, warum mir Frau Balkhausen die Geschichte ihrer Tübinger Langeweile erzählt hat. Ich finde nur eine Erklärung: Frau Balkhausen ist eine umherziehende Lähmerin. Gegen sie bin ich machtlos. Jetzt wird eine vollgesogene Matratze an unseren Blicken vorbeigeschwemmt, gefolgt von abgebrochenen oder heruntergerissenen Ästen und Gestrüpp. Ein Einsatzwagen der Polizei hält an der Brücke. Drei Polizisten springen heraus und beginnen, den Zugang zur Brücke abzusperren. Der Treppenaufgang liegt unter Wasser, die Brücke ist unpassierbar geworden. Ich bin froh, daß sich vor unseren Augen etwas abspielt. Denn ich habe keine Ahnung, welche Frage ich jetzt stellen oder wie ich Frau Balkhausens Erzählung analysieren oder welchen Rat ich ihrer Lebensnot geben könnte. Inzwischen bin ich der Meinung, daß es niemanden gibt, der Frau Balkhausens Zermalmungen gewachsen ist/wäre. Sie will auch nicht, daß man ihr hilft, sie will immer nur jemanden lähmen, heute also mich. Deswegen könnte ich im Prinzip eingestehen, daß unser Zusammentreffen ein Mißverständnis ist. Frau Balkhausen, ich bin kein Erlebnistherapeut, ich habe nur ein bißchen scherzhaft geredet, und Sie sind leider auf mich hereingefallen. Wahrscheinlich müßte Frau Balkhausen dann lachen, weil ich immer noch glaube, sie sei auf mich hereingefallen. Der Wagen eines Fernsehteams hält bei der Brücke. Ein Kameramann, ein Tonmann und eine Reporterin steigen aus, außerdem ein Gehilfe, der die Geräte auspackt. Frau Balkhausen und ich schauen zu, angenehm vergeht die Zeit, meine Demaskierung als Schwindler und Scharlatan wird noch einmal hinausgeschoben. Inzwischen übe ich im stillen die Sätze, die ich zu meiner Entschuldigung
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