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Ein Regenschirm furr diesen Tag

Ein Regenschirm furr diesen Tag

Titel: Ein Regenschirm furr diesen Tag
Autoren: Wilhelm Genazino
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nicht unter. Genauso fühle ich mich, denke ich sofort, und ebenso schnell kommt mir die Gleichsetzung meines Lebens mit dem Boot lächerlich vor. Guter Gott, wie mir dieser Zwang zum bedeutungsvollen Sehen auf die Nerven geht. Beinahe kann ich mir zuhören, wie ich mich selbst ermahne: Ein Kahn ist ein Kahn und sonst nichts. Kurz darauf schwimmt eine Ente vorüber; sie hat ein Bein eigentümlich hochgestellt. Und obwohl ich mich gerade ermahnt habe, nicht mehr bedeutungsvoll zu sehen, fällt mir doch der Satz ein: Guter Gott, jetzt sind auch noch die Enten behindert. Wenige Sekunden später holt die Ente das hochgestellte Bein ins Wasser zurück und schwimmt normal weiter. Ich warte noch eine Weile, bis Frau Balkhausen einen sicheren Vorsprung hat, dann verschwinde ich ebenfalls in Richtung Südbrücke. Wenn ich die Merkwürdigkeit des Lebens in diesen Augenblicken ausdrücken wollte, würde ich meine Jacke in das braune Flußwasser werfen müssen. Und zwar würde ich warten, bis ich auf der Südbrücke wäre, dann würde ich die Jacke in hohem Bogen ins Wasser hinabwerfen. Sie würde im Wasser treiben, um sie herum würde die Strömung herumschluppen und herumschlappen, und genau das wären dann die neuesten Wörter für die Merkwürdigkeit des Lebens: das Geschluppe, das Geschlappe. Kurz darauf betrete ich wirklich die Südbrücke. Sofort spüre ich die Versuchung, meine Jacke hinunterzuwerfen. Ich weiß nicht, warum ich es nicht tue. Wenn ich die Jacke von oben betrachten könnte (sie wäre schon nach kurzer Zeit total durchnäßt und als meine Jacke nur noch von mir wiedererkennbar), wie sie den Fluß hinabtreibt und sich dabei ein wenig um sich selbst dreht, würde ich vielleicht die Sonderbarkeit verstehen können, daß ich soeben mit Hilfe eines lächerlichen Mißverständnisses und einer ebenso lächerlichen Plauderei zweihundert Mark verdient habe. Aber ich behalte meine Jacke an, ich durchstehe die Merkwürdigkeit der letzten zwei Stunden, und ich erreiche das andere Ende der Brücke. Alles, was ich dabei empfinde, ist eine Sympathie mit meinem hoffentlich noch fernen Tod. Himmel, schon wieder ein schwer bedeutsamer Satz! In Wahrheit erfahre ich nur meine Teilnahme am allgemeinen Trivialschicksal: Am Ende meines Lebens steht der Tod, weiter ist nichts. Ich weiß sogar, warum ich meine Jacke nicht in das Wasser geworfen habe: Trotz aller Merkwürdigkeit bin ich bisher nicht verrückt geworden. Die Angst vor der Verrücktheit war immer nur die Angst vor der Kapitulation. Ich biege in die belebte Chamisso-Straße ein. Wohlwollend betrachte ich die Geschäftigkeit der Leute. Doch dann kann ich einem entsetzlichen Anblick nicht ausweichen. Ich sehe Himmelsbach, wie er mit einem mit Prospekten vollgeladenen Supermarkt-Wägelchen die Straße entlanggeht; vor jeder Haustür macht er halt und schiebt in jeden Briefkastenschlitz einen Prospekt ein. Wenn es an einer Haustür keine Briefkastenschlitze gibt, bückt er sich und drückt ein paar Prospekte unter dem Türspalt durch. Es kommt mir ein furchtbarer Gedanke: Himmelsbach scheitert an meiner Statt. Von Anfang an, seit ich ihn in Paris habe Schiffbruch erleiden sehen, war es seine Aufgabe gewesen, mir das Spiegelbild eines Scheiternden vorzuführen und mich vor mir selbst abzuschrecken. Ich bin machtlos, ein riesiges Durcheinander strömt durch mich hindurch und treibt mir die Feuchtigkeit in die Augen. Ich verlangsame meinen Gang und verstecke mich hinter geparkten Autos. Ich will Himmelsbach nicht begegnen und nicht mit ihm sprechen. Er würde mich und sich nicht begreifen, und ich hätte nicht die Kraft und nicht das Geschick, ihm meine Erschütterung zu erklären. Von Augenblick zu Augenblick wird klarer, daß meine Tränen nur am Anfang Himmelsbach galten; jetzt gelten sie nur noch mir. Auch ich würde, wenn ich nicht mehr anders könnte, idiotische Prospekte durch die Stadt fahren. Es war immer meine größte Furcht, eines Tages meine immense Beugbarkeit öffentlich zeigen zu müssen. Zum Glück geschehen auch wieder läppische Dinge. Es ist erneut Himmelsbach, der mich von meiner halb mir und halb ihm geltenden Erschütterung wieder befreit. Zum zweiten Mal bückt er sich zum Seitenspiegel eines Autos nieder und kämmt sich. Himmelsbach, schimpfe ich gutmütig mit ihm, du willst vor deinem Elend auch noch einen guten Eindruck machen. Diese Dummheit will mein Mitleid nicht mitmachen. Ich betrete ein staubtrockenes Modegeschäft und warte ab, daß die
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