Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Ort zum sterben

Ein Ort zum sterben

Titel: Ein Ort zum sterben
Autoren: Carol O'Connell
Vom Netzwerk:
heranzukommen. Sekunden später hatten sie sich ineinander verkrallt und kämpften mit zuckenden Gliedern und verzerrten Gesichtern um die Waffe. Hände glitschten über nasses Fleisch, Beine kickten. Sie rollten in den engen dunklen Gang, stießen an die Wände, landeten im Wohnzimmer, kollerten über den Teppich. Es war so dunkel, daß man die Waffe nur als vagen Umriß erkennen, als kaltes Metall spüren konnte. Der Lauf schwankte, zeigte nach unten. Charles hatte seine Hand noch am Revolver, als der Schuß fiel.
    Die Explosion war so laut, als ginge die ganze Welt in Stücke. Charles griff sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Schulter. Gaynor stand auf, den Revolver in der Hand. Als er ein Taschentuch hervorholte, fiel ein Plastikbeutel zu Boden.
    »Sie hätten mich nie abknallen können, Charles, dazu sind Sie viel zu normal, zu zivilisiert.« Sorgfältig wischte er Revolverlauf, Kammer und Griff ab. »Daß Sie zögern würden, einen Menschen umzubringen, war zu erwarten, und die halbe Sekunde hat Sie das Leben gekostet.« Er bückte sich nach dem Plastikbeutel und wickelte ihn um den Revolvergriff. »Jetzt sollen Sie auch eine ehrliche Antwort auf Ihre Frage bekommen: Ja, ich habe es genossen. Ich genieße es noch. Es macht mich an.«
    Betroffen sah Charles, wie Gaynor leicht in die Hocke ging und ein Stück von der Tür abrückte, durch die das Licht seinem Opfer jetzt voll ins Gesicht schien. Um seine Todesangst besser beobachten zu können? Ja, das war wohl der krönende Abschluß eines Mordes.
    Charles spürte Blut an der Hand. Der Revolverlauf war auf sein Herz gerichtet. Der bevorstehende Tod, das Ungeheuerliche des drohenden Endes verdrängten die Angst. Sekunden dehnten sich zur Ewigkeit. Er sah sich am Bett seiner Mutter stehen. Sie hatte keine Angst gehabt. Sie hatte es kommen sehen und das Unbegreifliche angenommen. Mit einem Ausdruck des Staunens war sie gestorben.
    Er lächelte. Gaynors Züge verdunkelten sich im Zorn. Er setzte Charles den Revolverlauf ans Herz.
    Bald.
    Er hörte, wie jemand nach dem Aufzug klingelte. Jack Coffey war da, aber er kam zu spät. Charles blieb keine Zeit mehr zum Rufen. Er hörte den Schuß, spürte den Schlag gegen die Brust, der die Knochen zerschmetterte. Die Muskeln zuckten, dann lag er regungslos in der Dunkelheit. Vom Gang her sah man nur den Umriß seines Körpers auf dem Teppich. Die höheren Bereiche seines so genial konstruierten Hirns stellten die Arbeit ein, das Gedächtnis brach zusammen. Nur in dem primitivsten Teil seines Seins, dem Sitz der Leidenschaften, war noch ein Stück Bewußtsein lebendig. Das letzte, was seine Sinne aufnahmen, waren die Stimme von Henrietta Ramsharan und gleich darauf ein jäher Schwall von Mallorys Parfüm.
     
    Mallory stürmte, Mordlust im Blick und den Colt in der Faust, aus Edith Candles Wohnung zum Ausgang, dessen Hydrauliktür sich langsam schloß. Auf dem Treppenabsatz blieb sie stehen.
    Nach oben oder nach unten?
    Von unten drang ein Geräusch. Splitterndes Glas? Durch die Stufen der Wendeltreppe hindurch konnte sie die Kellertür erkennen, die einen Spaltbreit offenstand. Er konnte erst vor Sekunden dort verschwunden sein. Moment – irgend etwas stimmte nicht an diesem Szenario. Instinktiv blieb sie noch stehen. Splitterndes Glas? Das einzige Kellerfenster befand sich hinter der Falttür zu dem Lagerraum mit Max Candles Zaubertricks. War Edith im Keller? Hatte sie die Falttür geöffnet?
    Jetzt ging es ihr wie Markowitz: keine Rückendeckung. Keine Zeit, Hilfe zu holen. Ein Alleingang ins Ungewisse.
    Auf lautlosen Gummisohlen, mit der Heimlichkeit der geborenen Diebin schlich sie sich nach unten. Auf den Treppenabsätzen blieb sie stehen und schraubte die Birnen aus der Fassung. Dann war sie unten, schraubte die letzte Birne heraus und stand im Dunkeln. Sie schob sich durch die Kellertür, machte sie rasch hinter sich zu und tastete nach der Taschenlampe auf dem Sicherungskasten.
    Die Taschenlampe war weg.
    Donner rollte dumpf durch den Kellerraum. Ein Blitz zuckte an den Hauswänden nach unten und tauchte die Mülltonnen hinter dem breiten Fenster in fahles Licht. Die Scheibe war eingeschlagen, doch die Öffnung war nicht groß genug für einen menschlichen Körper. Er mußte noch hier sein.
    Sie ließ sich von der Erinnerung und von ihrem Tastsinn leiten: vorbei an einer Transportkiste, durch den Gang aus Koffern und Schachteln in den Bereich, wo Max Candles Illusionen lagerten. Schritt für Schritt auf das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher