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Ein Ort zum sterben

Ein Ort zum sterben

Titel: Ein Ort zum sterben
Autoren: Carol O'Connell
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– jedenfalls hatte er den Eindruck, als koste sie diesen Moment genüßlich aus. Die Hände waren erhoben, zu Klauen gekrümmt.
    Der Junge wandte sich um. Er hatte sie noch nicht richtig wahrgenommen, als sie ihm schon einen Arm auf den Rücken verdreht hatte und ihn gegen die Wand stieß. Der Junge schrie auf vor Schmerz und Angst. Er wirkte jetzt jünger, ein Kind mit verstörten Augen, das sich einem Monster aus bösen Knabenträumen gegenübersieht. Das darf nicht wahr sein, sagte sein Blick.
    Woher hast du die Uhr, fragte sie und stieß ihn erneut gegen die Wand. Woher? Ihre Stimme hatte sich nicht gehoben, aber sie hatte Haarbüschel in der Hand, als sie die Frage wiederholte, weil keine Antwort gekommen war.
    Schlaflose Nächte hatten Jack Coffey an den Rand des Zusammenbruchs getrieben. Gebetsmühlenartig drehte sich eine Frage in seinem Kopf: Warum nur war Markowitz allein hineingegangen? Warum?
    Verdammt, der Mann hatte dreißig Jahre Berufserfahrung auf dem Buckel, war als Cop mit allen Wassern gewaschen, kannte sich aus. Blutige Anfänger, Rotzjungen, die noch nicht trocken hinter den Ohren waren, benahmen sich nicht so dämlich, gaben besser acht auf ihr Leben.
    Lieutenant Jack Coffey hatte sich das Jackett über einen Arm gehängt. Die feuchten Stellen auf dem gestreiften Hemd waren um das Schulterhalfter herum am dunkelsten. Das schmale, sonnengebräunte Gesicht war schlaff und müde, die Augen waren verquollen.
    Dabei hatte er sich eben selber wie ein blutiger Anfänger benommen. Hätte er mal wieder eine Nacht durchschlafen können, wäre ihm das wahrscheinlich nicht passiert. Aus dem Haus gerast war’er, als sei der Leibhaftige hinter ihm her, und hatte seine letzte Mahlzeit auf den Gehsteig gekotzt. Jetzt knickten ihm auch noch die Knie ein. Rasch, Lässigkeit vortäuschend, lehnte er sich an einen der Einsatzwagen.
    Die Straße stand voller Polizeifahrzeuge, auch ein paar nicht gekennzeichnete Wagen der Kriminalpolizei waren dabei. Die hinteren Türen des Leichenautos standen weit offen. Die beiden Sanitäter drückten ihre Zigaretten aus und gingen zurück ins Haus. Keine Macht der Welt hätte Jack Coffey da wieder hineingebracht – allenfalls die Vorstellung, sich vor Kate Mallory zu blamieren.
    Eine Sirene durchschnitt jammernd wie der Schrei einer Frau die lastende Schwüle der Luft. Da hatte doch tatsächlich irgendein Trottel einen Krankenwagen gerufen! Mit einem Affenzahn kam der jetzt auf sie zugerast, als gäbe es noch Hoffnung für Louis Markowitz. Dabei war der Mann seit zwei Tagen tot.
    Was für ein Ort zum Sterben! Die Fenster des sechsstöckigen Gebäudes waren wie schwarze Löcher. Brocken der einst prunkvollen Fassade lagen auf dem Gehsteig herum. In den letzten Wochen hatte das verlassene Mietshaus im East Village als Crackbude gedient. Man konnte die Spuren der Junkies vom Gehsteig bis zur Tür verfolgen.
    Der Wagen federte, als ein zweiter, schwererer Mann sich an den Kotflügel lehnte.
    »Hallo, Coffey.« Harry Blakely, Chef der Kriminalpolizei, zwanzig Jahre älter und vierzig Pfund schwerer als Coffey, hatte graues Haar und rot geäderte Alkoholikeraugen.
    Coffey nickte ihm zu. »Hat Riker Sie informiert?«
    »Soweit er konnte. Derselbe Täter?«
    »Nach den Verletzungen sieht’s so aus.«
    »Mein Gott«, sagte Blakely. Obwohl es nicht sehr wahrscheinlich war, daß der liebe Gott sich in diesen Winkel von Lower Manhattan Verirren würde, schielte er, während er sich mit dem Taschentuch übers Gesicht fuhr, nach oben, wo hinter der bröckelnden Backsteinfassade der Himmel zu vermuten war. »Haben wir schon einen vorläufigen Befund?«
    »Ja, aber der ist mit Vorsicht zu genießen. Slope ist noch nicht da. Die Spurensicherung meint, sie könnten vor vierzig bis fünfzig Stunden gestorben sein.«
    »Ist die Frau identifiziert?«
    »Miss Pearl Whitman, fünfundsiebzig. Wohnhaft Gramercy Park. Wie die beiden anderen.«
    »O verdammt! Ihnen sagt der Name nichts, was? Pearl Whitman von Whitman Chemicals. Haben Sie eine Ahnung, wie viel die wert ist?«
    Typisch für Chief Blakely. In Vermögensverhältnissen und Kreditlinien kannte er sich aus.
    »Die haben uns gerade noch gefehlt.« Blakely deutete mit einer ärgerlichen Kopfbewegung zu einem Kombi mit dem Logo eines TV-Nachrichtensenders hinüber und machte einem der Polizisten ein Zeichen. Der dirigierte den mit Reportern und Kameraleuten besetzten Wagen rasch vom Tatort weg. »Die reinsten Schakale. Riechen das Blut
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