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Ein Ort zum sterben

Ein Ort zum sterben

Titel: Ein Ort zum sterben
Autoren: Carol O'Connell
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sehen. Wie ein kleines Mädchen sitzt sie da in der Kälte. Wir müssen die Temperatur niedrig halten, Sie verstehen …«
    »Ich verstehe.«
    »Komisch, ich arbeite jetzt seit fast zwei Jahren hier, und bisher hat keiner die ganze Nacht bei einem Toten wachen wollen. Wirklich komisch. Ich wußte nicht, an wen ich mich wenden sollte. Und dann hab ich Ihren Namen auf dem Blatt für die Bestattungsvorbereitungen gesehen und hab mir gedacht, daß Sie vielleicht die Familie kennen.«
    »Ja, ich kenne sie.«
    Der Wachmann führte ihn zur Tür und deutete auf das quadratische Fenster.
    »Sieht doch wirklich aus wie ein kleines Mädchen, nicht?« Bekümmert schüttelte er den Kopf, dann schloß er auf und trat zurück. »Ich muß jetzt meine Runde machen, Rabbi.«
    »Schönen Dank für Ihre Mühe, Mr. Lugar. Es war sehr nett von Ihnen.«
    Der Wachmann senkte den Kopf unter der ungewohnten Last der freundlich anerkennenden Worte, drehte sich um und ging durch den trüb beleuchteten Gang davon, mit steifen, ruckartigen Bewegungen, als habe er sich seinen Körper nur für diese Nacht geliehen und käme noch nicht ganz damit zurecht.
    Durch die Pendeltür betrat der Rabbi einen hellen, kalten, in antiseptischem Grün gehaltenen Raum. Sie saß auf einem Metallklappstuhl vor den Schubfächern mit den Toten, von denen einer für Kathy Mallory sehr wichtig war. Den Blazerkragen hatte sie hochgeschlagen, als könnte sie dadurch ein wenig Wärme speichern, die Hände hatte sie in die Achselhöhlen gesteckt. Es sah aus, als umarme sie sich selbst, weil sonst niemand da war, der sie in den Arm genommen hätte.
    Er wußte, daß sie fünfundzwanzig war, aber gleichzeitig war sie das Kind mit dem trotzig-herausfordernden Blick auf dem alten Foto in Louis’ Brieftasche. Grundlegend geändert hatte sie sich nicht seit jenem Tag vor vierzehn Jahren, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Da war sie zusammen mit Helen ins Wohnzimmer gekommen und danach kaum von ihrer Seite gewichen. Nur größer war sie jetzt natürlich.
    »Was treibst du hier, Kathy? Mr. Lugar hat sich deinetwegen Sorgen gemacht.«
    »Ich denke, es ist Sitte, daß jemand bei dem Toten wacht. Jemand von der Familie.«
    »Nein, Kathy, das ist nicht nötig. Louis war kein orthodoxer Jude. Streng eingehalten hat er nur unsere Pokerrunde donnerstagabends. Bis auf letzten Donnerstag.«
    Er hockte sich hin. Es war, als sei er wirklich kleiner geworden. Mit Kindern sprach er gern in Augenhöhe.
    »Louis war so unorthodox, daß ich ihn mal beim Kauf eines Weihnachtsbaums erwischt habe. Es muß in deinem ersten Jahr bei Louis und Helen gewesen sein. Louis wollte mir einreden, es sei ein Chanukka-Busch.«
    »Haben Sie mit ihm geschimpft?«
    »Und ob! Als wir den Baum zusammen heimgetragen haben. Da kenne ich nichts …«
    »Der Baum war vier Meter hoch, ich sehe ihn noch vor mir.«
    »Eben! Würde ein orthodoxer Jude einen Weihnachtsbaum aufstellen und ein kleines Christenmädchen aufziehen? Du brauchst nicht bei ihm zu wachen.«
    »Helen hätte es gern gesehen.«
    »Da hast du auch wieder recht.»Lächelnd hob er die Schultern. »Sie hätte es gern gesehen. Auch Louis hätte es gern gesehen.«
    Mallory blickte auf ihre Hände hinunter.
    »Wein ruhig, Kathy.«
    »Das werden Sie nicht erleben, Rabbi.«
    Der Angesprochene richtete sich wieder auf. Er holte sich einen der Klappstühle, die an der Wand standen, mühte sich eine Weile mit der Aufklappmechanik und setzte sich.
    »Dann bleibe ich auch«, sagte er.
    »Wozu?«
    »Helen hätte es gern gesehen.«
    »Ich bin okay.«
    »Ich auch, Kathy. Ich auch. Wie lange kenne ich dich jetzt? Seit du ein kleines Mädchen warst.«
    »Markowitz hat immer gesagt, daß ich nie ein kleines Mädchen war.«
    »Seit du noch nicht so groß warst wie jetzt. So lange kenne ich dich schon. Und ich bin da, wenn du mich brauchst.«
    »Ich bin keine Jüdin.«
    »Das ist mir klar. Aber Helen hat so viel in dich investiert, das sollte man nicht einfach abschreiben.« Er sah zu der Neonleuchte hoch. »Heute ist Donnerstag. Als ich begriffen habe, daß ich nie wieder mit Louis Poker spielen würde, habe ich geweint.«
    »Ich weine nicht.«
    »Ich weiß. Schon damals, als du … noch nicht so groß warst wie jetzt, hat Louis immer gesagt, daß du feste Grundsätze hast. Nur Hampelmänner heulen, so hat er dich zitiert. Ich bin ein Hampelmann, Kathy. Du kannst von mir haben, was du willst, eine Einladung zum Lunch, einen Rat … Bist du sehr böse auf
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