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Ein Ort zum sterben

Ein Ort zum sterben

Titel: Ein Ort zum sterben
Autoren: Carol O'Connell
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entschuldigt und noch einen Blick auf seine Frau geworfen, die einen langen, spitzen Bratspieß in der Hand hielt. »Das zahl ich dir noch heim«, las er ihr von den Lippen ab, dann stieß er mit dem Wagen rückwärts aus der Ausfahrt und ließ sie mit dem Trubel allein.
    Als Polizeiarzt der Stadt New York kam Dr. Slope gewöhnlich in gedecktem Anzug zu seinen Patienten und nicht in einem Hawaii-Hemd, dessen Farbtupfer dem Blut am Tatort Konkurrenz machten und vor dessen exotischer Blütenpracht das diskrete blaue Kleid, der brave braune Anzug der Mordopfer verblaßten.
    Und meist hatte er Unbekannte vor sich und nicht einen Mann, mit dem er ein halbes Leben lang zusammengearbeitet hatte. Er war rasch ausgestiegen und zu der Tür geeilt, vor der ein Polizeiposten stand. Niemand hatte ihn abgefangen und vorbereitet. Und dann stand er in dem schäbigen Zimmer, sah seinen alten Freund als Leiche vor sich und mußte sich rasch an die nackte Backsteinwand lehnen. Das grelle Scheinwerferlicht vertiefte die Falten in seinem Gesicht. Der Sechzigjährige wirkte in diesem Augenblick gut und gern zehn Jahre älter.
    Was stimmte nicht an diesem Bild? fragte er sich. Nichts stimmte daran. Louis hätte der Spurensicherung und den Fotografen Anweisungen geben, ihn selbst nach Einzelheiten ausholen müssen. Louis als Leiche? Ein undenkbares Szenario!
    Und warum war Kathy Mallory hier? Sie gehörte an ihren Computer im Revier, statt hier in Schmutz und angetrocknetem Blut herumzukriechen, während Fliegen auf ihrem lockigen Haar landeten und ihr über Hände und Gesicht liefen.
    Der Fotograf und das Team von der Spurensicherung standen an der Tür und warteten darauf, daß Mallory ihnen das Zeichen zum Einsatz gab. Sie kniete am Boden und steckte dem Toten, der ihr Vater gewesen war, einen goldenen Trauring an den kräftigen Mittelfinger der linken Hand.
    Dr. Slope musterte den Jungen mit den Handschellen. Es schien irgendwie unangemessen, ihn von diesem bulligen Polizisten bewachen zu lassen. So angeschlagen, wie er war, hätte er nicht mal vor den beiden Toten wegrennen können. Er blutete am Kopf, eine Gesichtshälfte war geschwollen. Slope überlegte, ob er zur Ablenkung seine Aufmerksamkeit erst mal einem lebenden Patienten zuwenden sollte, sagte sich aber, daß er den Jungen schon bald von Amts wegen wiedersehen würde. Der ausgemergelte Junkie war ein sicherer Todeskandidat. Hatte Mallory ihn so zugerichtet? Daß sie ihn voll beherrschte, stand jedenfalls fest. Er hing wie gebannt an ihren Lippen.
    Mallory sah zu dem Jungen hoch. »Du hast die Leiche von der Stelle bewegt, nicht?«
    In der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft – nach dem Gerinnungszustand des Blutes zu urteilen etwa eine halbe Stunde – hatte sie den Jungen offenbar schon bestens abgerichtet. Er reagierte wie eine ausgehungerte Laborratte.
    »Ja, Ma’am. Ich hab ihn rumgedreht.«
    »Sag mir Bescheid, wenn er richtig liegt.« Sie rollte den schweren Körper wieder auf den Bauch.
    Slope überlegte, ob sie schon mal am Schauplatz eines Verbrechens gewesen war. Wohl kaum. Von Anfang an hatte sie sich bei der New Yorker Polizei mehr mit Computern als mit toten oder lebendigen Menschen beschäftigt. Ein Gedankensprung – und er sah seinen Freund Louis an jenem Frühlingstag vor sich, an dem er die kleine Kathy in die Geheimnisse des Baseballspiels eingeweiht hatte.
    Als er sich jetzt neben Mallory hockte, hatte er sich wieder einigermaßen gefangen. Er deutete auf die dunklen Spritzer im Gesicht des Toten. »Bring die Blutspuren am Körper mit den Blutlachen am Boden zur Deckung.«
    Sie nickte und beugte sich tief über die fahle Haut, hantierte mit dem toten Fleisch, das in der Augusthitze eine trügerische Wärme ausstrahlte. Dann sah sie zu dem Jungen auf. Der nickte.
    Slope suchte in Mallorys schönem Gesicht nach Anzeichen eines Schocks. Daß er keine fand, verunsicherte ihn. Ganz sachlich legte sie die weiße Hand des Toten in die dunkle Blutlache zurück und sah wieder fragend den Jungen an, der erneut nickte. Befriedigt stand sie auf und trat an die Leiche der alten Frau heran. Die Halswunde klaffte wie ein zweiter Mund, Vorderteil des blutverklebten Kleides und BH waren aufgeschnitten. Eine Brust lag schlaff auf den Rippen, die andere hatte das Messer zerfetzt, sie war voller Fliegen. Das Summen war ohrenbetäubend. Slope kam der schwarze Schwarm vor wie ein einziges gefräßiges Tier. Das verwüstete Greisinnengesicht, die Fliegen auf den klaffenden
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