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Annas Erbe

Annas Erbe

Titel: Annas Erbe
Autoren: Horst Eckert
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Eva
     
     
    1.
     
    Er spürte den beißenden Gestank, der von draußen über den betonierten Vorplatz wehte und durch die Ritzen der Fenster in den Raum drang. Vielleicht war es auch der Arbeiter, dem der Ätzgeruch anhaftete wie das Himmelblau seiner Latzhose.
    Der Mann kauerte ihm gegenüber und war so blass, als würde er im nächsten Moment ohnmächtig werden. Der Schock saß ihm sichtbar in den Knochen. Das Grauen, das er an diesem Morgen gesehen hatte, war bei Weitem schlimmer als all der Dreck und Gestank, dem der Deponiearbeiter Tag für Tag ausgesetzt war. Thann hatte Mitleid mit dem Mann.
    »Setzen wir uns erst mal. Wir müssen die Befragung nicht gleich machen. Wenn Sie wollen ...«
    »Nein, danke, Herr Kommissar. Es geht schon.«
    Thann sah aus dem Fenster des Personalraums. Ein himmelblau gestrichener Mülltransporter fuhr draußen am Pförtnerhäuschen vorbei aufs Gelände. Die Aufschrift in Großbuchstaben: A & F ENTSORGUNGSDIENST – SICHER UND SAUBER. Zwei Männer in ebenfalls himmelblauen Overalls stiegen aus und gingen zum Pförtner. Der Fahrer gab Gas und fuhr hinüber zur Deponie, eine schwarze Rußwolke zurücklassend. Hinter dem Transporter senkte sich die Schranke.
    »Wann haben Sie ...«, Thann zögerte, »... den Fund gemacht?«
    Der Mann sah auf die Uhr über der Tür. »Vor einer Dreiviertelstunde, genau um acht. Es wurde gerade hell. Ich lief dann sofort hierher und rief die Polizei.«
    Er hatte seine Planierraupe mitten auf der Deponie stehen lassen und war den ganzen Weg durch den tiefen, aufgeweichten Dreck zurückgerannt. Völlig von Sinnen. Nur allmählich war er etwas ruhiger geworden. Leise erzählte er weiter: »Ich sah ihn im Licht der Scheinwerfer. Ich war gerade beim Verdichten. So nennen wir das, wenn wir den Abfall zusammenschieben in eine Mulde. Und dabei fahren wir immer wieder hin und her, hin und her, damit das Volumen weniger wird, damit mehr auf die Deponie draufgeht.« Seine Hände arbeiteten, als wollte er die Luft verdichten.
    Thann nickte. »Haben Sie eine Vorstellung, wie er auf die Deponie gekommen ist?«
    Der Arbeiter schluckte. »Nein, keine Ahnung.«
    Die Tür ging auf. Schneider und Dalla.
    Dalla fuhr sich mit der Hand durch die zerzausten Haare. »Der Pförtner will von nichts etwas wissen, die anderen, die gerade kamen, auch nicht.«
    Schneider ergänzte, die Mundwinkel zynisch nach unten gezogen: »Draußen haben sie weitere Teile entdeckt. Scheinen zusammenzugehören.«
    »Ist gut, dann lasst uns noch mal rausfahren.«
    »Okay, Chef.«
    Thanns Magen krampfte sich zusammen. »Schneider, lass das!«
    Zum ersten Mal hatte der Leiter des K1 ihm, dem jüngsten Oberkommissar, die Führung einer Mordkommission übertragen. Schneider und Dalla, beide im selben Dienstgrad, waren etwa zehn Jahre älter als er. Spott in jedem Wort, in jedem Blick der beiden.
    Der Himmelblaue stand plötzlich auf, murmelte eine Entschuldigung und eilte zur Toilette. Es war etwas anderes als der Gestank, was ihm zu schaffen machte.
     
    Sie fuhren mit ihrem Zivilwagen über die Deponie. Thann fühlte leichte Stiche in der Magengegend.
    Es war der 13. Dezember, ein grauer Donnerstagmorgen. Ein schlammiger Pfad führte hinein in das Meer aus den toten Resten des Stadtlebens. Schwärme von Möwen kreisten über der Halde. Am Horizont flackerte das ewige Licht der Gase, die aus dem gärenden Leib der Deponie nach oben strömten, aufgefangen in einem Netz aus Rohren und ins Freie geführt von einem Kamin, an dessen Ende die Flamme, einmal entfacht, nie erlosch, weithin sichtbar von der Autobahn aus, die das Gelände auf einer Seite begrenzte.
    Der Wagen hielt neben einer Planierraupe und drei Mannschaftswagen der Schutzpolizei. Möwengekreische, das Scharren der Schaufeln und Hacken, Blitzlichter und Flüche. Dreißig Beamte der Einsatzhundertschaft arbeiteten im Morast. Einige von ihnen hatten weiße Binden vor dem Gesicht.
    »Verbandszeug. Damit wollen sie den Drecksgestank abhalten«, erklärte Dalla.
    »Und, hilft's?«, fragte Thann.
    »Ach was. Das stinkt durch alle Poren durch. Schlimmer kann es in der Hölle auch nicht sein.«
    »Dort drüben!«, sagte Schneider und wies in Richtung des Polizeifotografen. Die Gruppe setzte sich in Bewegung, da ertönte weiter rechts ein Schrei.
    »Hier ist das andere Bein!«
    Einige der Uniformierten stapften auf den neuen Fund zu. Der Fotograf rammte sein einbeiniges Stativ in den weichen Grund. Wieder zerrissen Blitzlichter den Dämmer des
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