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Ein Ort zum sterben

Ein Ort zum sterben

Titel: Ein Ort zum sterben
Autoren: Carol O'Connell
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matte Licht zu, das durch das Fenster fiel. Der nächste Blitz zuckte, gefolgt von einem gewaltigen Donnerschlag – und sie sah die Guillotine. Ein überraschend sanfter Regen tröpfelte auf die Mülltonnen hinter dem zerbrochenen Glas, durch das der Wind feine Wasserschleier wehte.
    Mit äußerster Anspannung hielt sie Ausschau nach unbestimmten Schatten, horchte auf den Klang von Schritten. Ihr Blick verhärtete sich, sie sah den einzelnen Regentropfen nicht kommen, der auf ihrem Jackenärmel landete und sich, ohne zu nässen, spur- und wesenlos in dem rauhen Tweedstoff verlor. Mallory konzentrierte sich auf die subtilen Abstufungen der Schwärze um sie her.
    »Für den Christen ist die Hölle nicht das Feuer der Verdammnis«, hatte Rabbi Kaplan ihr erklärt, als sie sich im Kindergottesdienst nicht zurechtfand (Helen hatte darauf bestanden, christlichem Gedankengut in Kathys Erziehung zumindest gleiche Chancen einzuräumen), »sondern die Abwesenheit derer, die wir lieben.« Das habe er von einem Jesuiten, hatte der Rabbi gesagt, also müsse es stimmen. Und es stimmte ja wirklich. Man hatte ihr die Menschen genommen, die sie liebte. Jetzt würde sie zurückschlagen.
    Vor ihr verbreitete eine Kugellampe mattes Licht. Sie erstarrte. Hinter dem chinesischen Paravent trat ein Schatten hervor und bewegte sich nach rechts. Sie hob den Revolver. Gleich mußte der Kopf im Visier erscheinen. Mallory hatte sich für einen Kopfschuß entschieden, obgleich man ihr in der Ausbildung beigebracht hatte, sich am Körper immer das breiteste Ziel zu suchen. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und wartete darauf, daß der Schatten sich erneut zeigte. Der Regen war stärker, das Trommeln auf den Mülltonnen lauter geworden, heftige Böen schleuderten Wasserschwaden in den Kellerraum.
    Dann knirschten Scherben, vor den Füßen des Schattens, den ihr Körper warf, tauchte ein weiterer Schatten auf. Sie hörte rasche Schritte, drehte sich um – und plötzlich war der Raum in gleißendes Licht getaucht. Die Gestalt, die sich zwischen ihr und dem Licht bewegte, war klein und dick, rundliche Arme streckten sich ihr entgegen.
    Und jetzt hörte Mallory ein Geräusch hinter sich und fuhr herum. Zu spät. Immerhin hatte sie in diesem Sekundenbruchteil alle Einzelheiten des Mannes registriert, der die Waffe gehoben hatte und den Finger um den Abzug krümmte. Der Abstand betrug kaum einen Meter. Ob guter oder schlechter Schütze – auf diese Distanz konnte Gaynor sie kaum verfehlen.
    Edith Candle sah ruhig zu, wie Gaynor abdrückte und die blauschwarze Mündung Feuer spie. Sekunden später war es vorbei. Noch immer wehten Regenschwaden durch die zerbrochene Scheibe, ein paar Tropfen verdampften auf dem heißen Lauf.
    Mallorys Augen, die sich nur allmählich an das grelle Licht gewöhnten, nahmen Gaynor nur schemenhaft wahr, während die Kugel ihre Bluse durchschlug. Das goldene Haar flatterte im Oktoberwind, sie schwankte, und ihre Augen schlossen sich, noch ehe sie auf dem Kellerboden aufschlug und regungslos liegen blieb.
    Sie hörte das leise Tappen schneller Schritte und einen langsameren, schweren Tritt, der ihnen folgte.
    Es dauerte eine Weile, bis sie die Augen wieder aufschlug. Sie legte eine Hand vors Gesicht, um es vor dem gleißenden Licht auf der Guillotine zu schützen, und dachte, daß kugelsichere Westen stark überschätzt wurden. In diesem Augenblick hätte sie es fast vorgezogen, tot zu sein. Die Weste hatte zwar einen Durchschuß verhindert, ganz unbeschadet aber hatte sie den Aufprall des Projektils nicht überstanden. Sie ertastete die gebrochene Rippe. Ihr Atem ging in kurzen, mühsamen Stößen. War die Lunge verletzt?
    Neben ihr lag ein umgekippter Schrankkoffer, dahinter Max Candles Wachskopf. Das Gesicht, das Charles so ähnlich sah, blickte zu ihr hoch.
    Verflixt, wo war … Gaynor hatte ihren Colt mitgenommen. Das zackige Loch in der Fensterscheibe war unverändert, auf diesem Weg war er also nicht entkommen. Und wo steckte Edith? Sie kannte hier unten bestimmt hundert Schlupfwinkel.
    Mallory sah zu der gleißenden Sonne auf der Guillotine hoch. Nur Edith wußte, wo der Lichtschalter war.
    Beim Aufstehen durchfuhr ein stechender Schmerz ihre Brust. Sie schaltete die Kugelleuchte aus und ging zur Guillotine. Die Taschenlampe lag auf dem Boden neben dem hölzernen Bügel, in dem Ediths Hände gesteckt hatten, als sie damals die Nummer vorgeführt hatte. Mallory hockte sich hin. Unter ihren forschenden
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