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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht
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Hiobsposten nicht bedurfte, um die Lage unhaltbar zu gestalten: vielmehr wurden jene im Hause selbst erzeugt. Man wird, auch ohne Frau Castiletz noch zu kennen, begreifen, daß sie solchem Wesen machtlos gegenüberstand. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich’s unter den Gegebenheiten so bequem wie möglich zu machen, und ihren Gatten Lorenz einschlagendenfalls nicht durch Widersprüche zu reizen. Hierin hielt sie sich wacker, und es ist auch völlig unvorstellbar, was sonst geschehen wäre. Denn ihre bloße sanfte Hinnahme bedeutete in gewissem Sinne ja auch schon eine Steigerung der zur Entladung gelangenden Gewalten – insoferne nämlich, als Lorenz Castiletz dahinter stets eine besserwisserische Duldung witterte, die ihn bereits gewohnheitsmäßig nicht mehr ganz ernst nahm: und gerade das Letzte wollte er – wenn ebenholzschwarz – einmal gänzlich außer Zweifel gesetzt wissen.
    Wer Frau Leontine Castiletz etwa persönlich gekannt hätte, der müßte dann auch wissen, daß es ein Wort gibt, welches ihr ganzes Wesen zulänglich umschreibt; es ist ja nicht eben ein Ausdruck von klassischer Haltung, jedoch hier vom Gehalte der Wahrheit erfüllt. Jenes Wort oder Wörtchen heißt: »blümerant«. Sie war eine blümerante Person, und seit das einmal von irgend jemand ausgesprochen worden, griff es hinter Frau Leontinens Rücken in ihrem Bekanntenkreise um sich, ja, es drang am Ende in die Verwandtschaft ein, wo man sich schon gar nicht stören ließ, sondern gleich ein Hauptwort schuf: »Die Blümerante«. Von da ab verschwand die Bezeichnung »Leontine« gänzlich, es sei denn, daß die Trägerin dieses Namens gerade zugegen gewesen wäre.
    Sie war eine hübsche Frau. Manche sagten, sie sähe so aus wie ihre Tante als Mädchen – das war jene, welche das Landgut besaß – aber Leontine war viel zarter, so daß die Gutsbesitzerin, eine schöne und recht üppige Dame, jetzt neben ihr beinahe mächtig wirkte. Vielleicht lag das am Alter. Frau Castiletz war um volle dreiundzwanzig Jahre jünger als ihr Gatte.
    Sie war dunkelblond, und ihre Augen schwammen in einem seltenen Veilchenblau. Diese etwas schräg gestellten Augen – die äußeren Winkel schienen höher zu liegen – schwammen tatsächlich mehr, als daß sie blickten. Trotz der beinahe geschlitzten Form waren sie groß. Aber jeder Mensch, der vor sich hinsieht, entsendet einen Blickstrahl wie einen fliegenden Pfeil, kraftvoller oder schwächer vorgeschnellt. Bei Frau Castiletz fehlte ein solcher Strahl. Ihr Schauen breitete sich gleichsam seitwärts aus, wie die Ringe um einen ins Wasser geworfenen Stein.
    Ja, es stand um ihre Augen, wie der Hof um einen trüben Mond, ein ständiger Schleier einer gewissen Unaufmerksamkeit, ein ringweis nach außen zerstreutes Sehen weit mehr als ein Suchen und Halten des Mittelpunktes in dem, was sie ansah.
    Kokosch liebte seine Mutter sehr. Er konnte stundenlang zufrieden und völlig schweigsam auf dem Boden spielen, wenn sie im Zimmer saß mit ihrem Stickrahmen, den sie immer hatte und an welchem sie bei der Arbeit vorbeizusehen schien. Mitunter mochte man den Eindruck haben, daß Frau Leontine ein klein wenig schiele, aber das war nicht richtig.
    An solchen einsamen Nachmittagen früher Kindheit, in welche nur dann und wann das Klingeln der Straßenbahn, das Tuten eines Dampfers vom Kanale klang, war der Knabe zweifellos glücklich und in sich selbst ruhend (und viel später erinnerte er sich mitunter daran und auch an die fernen Geräusche). Von Zeit zu Zeit pflegte er die Spielsachen – eine Festung mit Soldaten, Schiffe, die große Eisenbahn und noch anderes und Schönes – sein zu lassen und zur Mutter zu kommen. Er hockte vor ihr auf dem Teppich und rieb seinen Kopf und auch das Gesicht an ihrem Bein in dem glatten Seidenstrumpf. Dann machte er sich schweigend wieder an das Spiel, wobei Kokosch sehr erfinderisch war, einzelnen Einfällen durch Tage und wie verrannt nachging und Störungen aufs äußerste nicht leiden mochte. Sein Vater, der kein schlechter Beobachter war, kam einmal – die auf den ersten Augenschein hin stets gleiche und doch allmählich gegenüber der Festung sich von Tag zu Tag verändernde Aufstellung der Armee bemerkend – durch vorsichtiges Fragen dahinter, daß des Söhnchens Spiele Zusammenhänge bis über acht Tage aufwiesen, die man eigentlich als durchaus logische bezeichnen konnte. Kokosch erklärte dem Vater damals auch eingehend und vertraulich, welche große Rolle die
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