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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht
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Eisenbahn bei alledem spiele, und zeigte ihm die entsprechende Veränderung der Gleisanlage.
    Frau Castiletz gehörte nicht zu den erzählenden Müttern. Sonst hätte sie mitteilen können, daß der Kleine, ohne eine Uhr (die er wohl schon kannte) im Zimmer zu sehen, und ohne daß man hier von einem Kirchturme hätte schlagen gehört, mit auffallender Regelmäßigkeit alle halben Stunden sein Spiel unterbrach und zu ihr kam – wie sie in der Stille über ihrer Armbanduhr festgestellt hatte.
    Es hätte auch nicht zu ihr gepaßt, solche Mütteranekdoten zu erzählen. Sie beanspruchte nicht die Aufmerksamkeit ihrer Mitmenschen, sie drang nicht vor. Sie saß nur irgendwo dabei, mehr nicht. Ihre Haare waren gekraust und sehr locker, und sie hatte überhaupt etwas Aufgekraustes, Zerfließendes oder Zerfahrenes an sich, wie weiße Windwolken an Sommertagen. Ihre Kleidung war ebenso, und bei bunten Kleidern bevorzugte sie mit stiller Hartnäckigkeit ganz groß geblumte Muster, was sie stärker erscheinen ließ als sie war und zudem nicht immer und in allen Fällen sonderlich geschmackvoll wirkte. Es gab da mitunter stilisierte Blumen, von denen eine allein über den Rücken und noch tiefer reichte. Es mußte angenommen werden, daß sie derlei sich eigens beschaffte und auswählte. Aber mit Worten hörte man sie gar niemals irgendeinen Standpunkt vertreten, irgendeine greifbare Meinung äußern. Sie war oft freundlich verwundert. Wenn sie sprach, zerfielen ihre Sätze, kaum entstanden, so wie ihr Blick in Ringe zerfiel, kaum entsandt. Sie schien immer wie ein fernes Segel am Rand des Lebens draußen zu treiben. Es fanden sich Leute, welche ihr bei alledem Affigkeit nachsagten: das war ebenso unrichtig wie die Beobachtung, daß sie schiele. Sie war nicht affig. Sie war blümerant.
    Ihrer Herkunft nach stammte sie aus der »Branche«, wie man vorlängst meistens noch statt »Zweig« oder »Erwerbszweig« zu sagen pflegte. Ihr Vater war seinerzeit Tuchfabrikant gewesen, die Mitgift achtbar, wenn auch nicht bedeutend. Immerhin, auch wenn man von der damals noch zu erwartenden Erbschaft absah, hatte Lorenz Castiletz »gut geheiratet« – so nennt man das häufig in bürgerlichen Kreisen – als er mit fünfundvierzig Jahren das zweiundzwanzigjährige Mädchen bekam.
    2
    Conrads Elternhaus bildete, samt der einseitigen Straßenzeile, an deren vorläufigem Ende es stand, einen der letzten und neuesten Ausläufer des großen Stadtviertels jenseits vom Kanal, das aber in seinem Kerne ein trübes, ja selbst düsteres Gewinkel alter und zum Teil sogar uralter Gassen umschloß: sie blieben als Hintergrund den späteren Abschnitten und Zuständlichkeiten von Kokoschs Knabengeschichte Vorbehalten. Diese spielte sich zunächst der Hauptsache nach in einem von drei Punkten begrenzten Gebiete ab. Der erste Punkt war die elterliche Wohnung und darin im besonderen Conrads Knabenzimmer, ein großer, heller Raum, mit weiter und bedeutender Aussicht, wie sich nach der Lage von selbst versteht. Der zweite Punkt lag jenseits des Wassers: das Schulhaus. Der Weg dahin war keineswegs weit, man mußte nur die Zeile zurück bis zu einer großen Brücke gehen, und dann lag’s linker Hand, geradeaus am oberen Ende einer langen Straße, die etwas anstieg. Lief man nach der Schule bergab, dann konnte man auf dem Bürgersteig große Geschwindigkeiten erreichen, was natürlich rudelweis geübt ward und nicht eben zur Freude der Erwachsenen. Der Vater Castiletz hatte Wert darauf gelegt, daß Conrad gerade diese Schule besuchte, und den Jungen dort rechtzeitig einschreiben lassen. Denn es waren jene fünf Klassen das Anhängsel einer großen Anstalt, worin junge Lehrer für ihren Beruf vorbereitet und gebildet wurden. Diesen dienten die Schüler gleich als pädagogische Versuchskaninchen; und das hatte zur Folge, daß hier immer auf die neueste und beste Art, welche man jeweils gerade zu haben glaubte, gelehrt ward, weshalb die Schule im Geruche besonderer Neuzeitlichkeit und Fortgeschrittenheit stand. In dem gleichen und beinahe riesenhaft zu nennenden Gebäude befand sich obendrein auch eine Mittelschule, so daß die Kinder, aufsteigend, am selben Orte und beim schon gewohnten Schulwege verbleiben konnten.
    Der dritte Punkt in dem Dreiecke, das von ungefähr Conrads Knabenzeit umschloß und damit auch sein »Reich« (»Kinderland«, »Knabenreich«), lag so recht in dessen Schwerpunkte und zugleich an dessen äußerster Grenze: nämlich gerade gegenüber
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