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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht
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jenen Fabrikschloten, die wie gereihte Pfeile auf der anderen Seite des Kanales aufsprangen. Bis hierher pflegte er durch Wiesenpläne, Gebüsch und Auwald meist vorzudringen und im allgemeinen nicht weiter. Denn rückwärts standen wieder Häuser und Fabriken, lief die Eisenbahn, und vor allem das so gut wie endlose hohe Gitter eines Rennplatzes.
    Conrad gehörte nicht zu jenen Knaben, die noch bis weit in die Mittelschule hinein mit einer Erzieherin gesegnet sind. Man ließ ihn bald frei herumlaufen als richtigen Straßenjungen, wenn er nur zur Zeit wieder heimkam. Die Eltern erwiesen sich hier als sorglos, ja bei Lorenz Castiletz schien die Zulassung solcher Freiheit aus einer Art von Überzeugung zu kommen. Kokosch war im Besitze jener großen Begabung, ja beinahe Kunst, welche jedes Schülerleben erleichtert ebenso wie das eines Rekruten: die Kunst, nicht aufzufallen. Er fiel weder durch Kenntnis noch durch Unkenntnis auf, seine Leistungen hielten sich sozusagen in einem schlichten Grau, ebenso wie sein Betragen, und so kam er durch eine Klasse nach der anderen als ein Mitläufer, an welchen sich die Lehrer schon gewöhnt hatten. Seinen Eltern bereitete er in diesen Sachen niemals Sorge. Lorenz Castiletz fand das selbstverständlich, und er hätte andernfalls den Jungen wahrscheinlich geprügelt.
    Nein, die Bedenklichkeiten kamen hier aus anderen Ecken, und Conrads Knabenzeit war das ausgemachte Gegenteil von dem, was man damals eine »Schülertragödie« zu nennen pflegte.
    Unmittelbar vor dem Haustore begann eigentlich schon das »Reich«, wenn man so über die Straße blickte, zu den Holzstapeln, dem dazwischen wieder stückweis sichtbaren Geländer, über den Kanal und auf die Häusermasse an dessen anderem Ufer. Neben dem Hause lagen zunächst einige künftige Bauplätze, jedoch nicht umplankt, sondern offen und noch uneben, mit vielen Hüglein und Berglein, über welche spielende Kinder zahllose glattgetrampelte Pfade und Weglein getreten hatten und in die überall Löcher gegraben waren wie Tunnels und Straßen: es sah stellenweise aus wie der Bau irgendwelcher Nagetiere. Eine große Tafel auf zwei Pfosten kündete den Besitzer und daß diese Gründe käuflich zu erwerben seien. Die Tafel stand schon lange da, ihre Bretter waren fast grau von Wind und Regen.
    Dieser etwas öde Platz war von den richtigen »Steppen« oder »Pampas« getrennt durch einen breiten Weg, der senkrecht gegen den Kanal und dessen Uferstraße herauslief.
    Von da ab zogen sich die Wiesen weithin. Jüngere Laubbäume in Gruppen und Strichen standen an ihren Rändern, teilten sie da oder dort. In der Mitte aber, ganz frei auf solch einer graugrünen Fläche, erhob sich mitunter ein Riesenbaum, dessen höchste Zweige schon fern dort oben waren vor dem blauen Himmel und mit den Sonnenstrahlen verschmolzen. Unten pflegte der umfängliche Stamm fast immer glatt geschabt zu sein und ohne Borke: denn viele Kindergeschlechter hatten rundum Haschen gespielt. War der Baum hohl, dann hatte man überdies noch tiefe Grabungen im umgebenden Erdreich unternommen – die mit der Zeit zu rechten Fallgruben geworden waren – um das Versteck zu vergrößern. Oder überhaupt zu keinem Zwecke, sondern um des Grabens willen. Immer fand sich dann wer, der tiefer scharrte. Zwei, drei kleine Jungen etwa und ein Mädchen, alle mit ernsten Gesichtern, schmutzigen Nasen und Händen.
    Weite Flächen waren mit dichtem und auf den ersten Blick undurchdringlichem Gebüsche bedeckt. Aber es gab darin Weglein, und zwar ganz zahllose. Nicht breiter als ein sehr schmaler Mensch. Das Gebüsch stand dann links und rechts in übermannshohen Wänden. Man entdeckte mit Freude und Überraschung Hohlräume, ja ganze Zimmer in diesen Dickungen, mit Wänden und Decken, die aus den zähen und langen Ranken der Schlingpflanzen fest geflochten waren. Jedoch, bevor man noch in der grünen Verborgenheit eines solchen Zeltes sich niedergelassen hatte, war man meist schon in einen Unrat getreten, wovon hier alles voll lag, wie sich bald zeigte. Die nächtigenden Stromer hatten sich keinen Zwang angetan.
    Von all den vielen Jungen aus der Nachbarschaft, welche sich ständig hier herumzutreiben pflegten, war es eine bestimmte Gattung, die alsbald Conrads begierige Anteilnahme fesselte: jene nämlich, welche an Sommerabenden bei Einbruch der Dämmerung aus den Auen zurückkehrten mit großen Einmachgläsern, die sie an einem geschickt um den oberen Vorsprung gelegten Gehenk aus
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