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Ein Mensch namens Jesus

Ein Mensch namens Jesus

Titel: Ein Mensch namens Jesus
Autoren: Gerald Messadié
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ans Kreuz schlagen lassen — ebenso wie die »Verräter« des Jerusalemer Klerus, mordlustige Zeloten hier, nicht weniger mordlustige Sikarier da, apokalyptische Essener nährten in der Wüste ihren Haß auf alle Welt, und alle vereinte nur die gemeinsame Aversion gegen die Nachkommen Herodes’ des Großen und gegen die Römer. Angesichts dieser Zersplitterung war die Lage außerordentlich gespannt. Sowohl das Volk als auch zahlreiche Angehörige der Führungsschicht strebten nach Unabhängigkeit, Einigung und nach der Wiederherstellung ihrer nationalen Würde. Diese jedoch stand in engem Zusammenhang mit der Wiedererrichtung des davidischen Thrones, und wenngleich sie auch aus verschiedenen Gründen darauf hofften, glaubten Pilatus, Josef von Arimathäa und Herodes doch, daß Jesus als wahrer Nachkomme Davids die Führung übernehmen könne.
    Pilatus erhoffte sich von Jesus die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung des Friedens in Palästina, wie dies unter Herodes dem Großen der Fall gewesen war; als wahren König der Juden würde das Volk ihn jedoch nicht wie Herodes anfechten. Man mußte ihn dann nur noch überzeugen, Rom als Schutzmacht zu akzeptieren. Rom wäre der große Nutznießer eines von Jesus regierten Königreiches gewesen, da der ewig gärenden Unzufriedenheit ein Ende gesetzt worden wäre, einer Unzufriedenheit, die dieses für das Imperium recht unrentable Land in einen Hexenkessel verwandeln konnte.
    Für Herodes stellte Jesus zunächst eine Bedrohung dar: Mit der Ankunft des Königs der Juden, des Messias, hatte das letzte Stündchen für seine Tetrarchie geschlagen. Vielleicht aber konnte er ihn dazu bringen, sich mit Judäa zu begnügen, wenn er ihm gleichzeitig noch ein, zwei andere Provinzen anbot; so hätte Herodes sich der Hypothek entledigen können, die ihm der unausstehliche Stiefneffe Herodes Agrippa I. aufgebürdet hatte.
    Für Josef von Arimathäa und Nikodemus schließlich war Jesus der Befreier, der jener Zeit der Korruption, der Intrigen und Zugeständnisse des Sanhedrin ein Ende bereiten sollte.
    Vermutlich waren Pilatus und Herodes von Jesus’ rätselhafter Persönlichkeit enttäuscht. Trotzdem war er von der besonderen Aura eines Thronprätendenten umgeben, und sein Tod hätte nur den Interessen des beiden verhaßten Sanhedrin gedient. Es bestand kein Anlaß, dem Hohen Rat eine solche Freude zu bereiten. Man konnte ihm freilich den Gesichtsverlust und sich selbst Aufstände ersparen, aber ebensogut konnte man Jesus’ Leben retten, um noch einen Trumpf in der Hand zu haben.
    Und genau hier scheint es mir angebracht, auf die Grundlagen der christlichen Überlieferung zu sprechen zu kommen. Von Origenes über die zahllosen Streitereien und Auslegungen der Konzile, die Schismen und Häresien bis in die heutige Zeit scheint die gesamte christliche Kirche fest daran zu glauben, daß im Begriff des Messias eine gleichsam schon vorher existierende oder sogar rückwirkende christliche Sehnsucht Gestalt angenommen hat. Dem ist aber keineswegs so: Es handelt sich um einen ganz und gar jüdischen Begriff. Jesus verwirklichte eine spezifisch jüdische Sehnsucht, er tat es obendrein nur widerwillig, denn kein einziges Mal hat er gesagt: »Ich bin der Messias.«
    Die Kirche scheint nicht nur zu glauben, daß der Begriff des Messias christlicher Herkunft ist, sondern daß er auch genau definiert ist. Auch das trifft nicht zu. Unter der aramäischen Bezeichnung Messih, die »Gesalbter« bedeutet, war ein sowohl zum König der Juden als auch zum Hohenpriester auserkorener Gottgesandter zu verstehen, ein geistlicher und weltlicher Herrscher, der die Zepter Aarons und Israels hielt. Er konnte ebenso auf den Wolken daherschweben wie als verborgener Messias schon mitten unter den Juden weilen. Jedenfalls war das Ganze eine rein jüdische Angelegenheit. In den späteren Jahrhunderten wurde die Verurteilung dieses Messias gleichsam als eine gegen die Christen gerichtete Verfolgung dargestellt, für die die Juden bis in alle Ewigkeit Verantwortung trugen. Als Katholik kann ich nicht verheimlichen, daß ich in dieser irrigen Annahme die grundlegende Wurzel für eine der heftigsten Glaubensverfolgungen aller Zeiten sehe.
    Korrupt bis dorthinaus, agierte der Sanhedrin, als er Jesus verurteilte, aus hauptsächlich politischen Gründen. Seine Mitglieder wußten viel besser über die messianische Bewegung Bescheid als ein Pilatus; Leute wie Hannas und Kaiphas machten sich kaum Illusionen über folgenden
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