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Ein Mensch namens Jesus

Ein Mensch namens Jesus

Titel: Ein Mensch namens Jesus
Autoren: Gerald Messadié
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und dessen Blut sie tranken.
    Das ist der springende Punkt, denn er erklärt, daß Jesus einem jüdischen und einem geschichtlichen Mißverständnis zum Opfer gefallen ist. Alle wollen — damals wie heute — unbedingt einen Messias aus ihm machen; kein einziges Mal erklärt er, der Messias zu sein. Er ist sich der Rolle, in die er sich drängen ließ, vollkommen bewußt, erträgt sie aber nur, um somit seinerseits das gnostische Thema vom Aufstieg des Menschen zu Gott propagieren zu können, das ganz im Gegensatz zu der Vorstellung steht, Gott steige herab, um in Gestalt des Messias unter den Menschen zu weilen. Pilatus wird aus Verärgerung das Interesse an ihm verlieren, und der Hohepriester wird seine Kleider zerreißen. Sie verstehen Jesus nicht und glauben, er mache sich über sie lustig. Und diesem Mißverständnis hat er meiner Meinung nach wiederum zu verdanken, daß er seine Kreuzigung überlebt: Er hat noch Anhänger, die ihn nach wie vor für den Messias halten, und sei es auch nur für einen verborgenen Messias.
    Welch rätselhafte Persönlichkeit... Er taucht am Scheideweg des Mythos und des mediterranen Chiliasmus auf. Im 1. Jahrhundert sind alle großen Religionen des Orients tot, zumindest liegen sie im Sterben. Theben ist verfallen, der Mithras-Kult wird nur mehr in entlegenen Landstrichen praktiziert, von wo aus Julianus Apostata ihn im 4. Jahrhundert wieder zu verbreiten versuchte, vom Baal-Kult und der Verehrung der Kybele bleiben nur noch ein paar abergläubische Rituale für unfruchtbare Frauen. Überall triumphiert die römische Religion, von den Säulen des Herkules bis zu den äußersten Grenzen des Pontus, von der kaiserlichen Provinz Lusitanien bis hin zu den Völkern des Bosporus und Kappadokiens, und dies nicht nur dank ihrer prachtvollen Tempel, sondern auch aufgrund der entschieden von den Göttern gesegneten Annehmlichkeiten, in deren Genuß man durch die römische Verwaltung gelangte: fließendes Trinkwasser, nach Möglichkeit kalt und warm, Beton, Aufzüge, Kanalisation, nächtliche Straßenbeleuchtung in den Städten, gepflasterte Straßen, Post und sogar Zeitungen. Die alte mediterrane Welt, die jahrhundertelang in ihrer dunklen Magie vor sich hin garte, erleidet einen Schock; sie ahnt das nahende Ende eines Zeitalters. Sie erwartet Gesandte, die den Weg in die Zukunft erhellen: Die schon erwähnten messianischen Helden verbuchen einen ungeheuren Erfolg. Mit Apollonios von Tyana zum Beispiel verkehren die Könige wie mit ihresgleichen. Einen tiefgehenden Einfluß üben sie jedoch nicht aus; im Grunde sind sie eher Philosophen als Persönlichkeiten, die Faszination ausüben. In ihren Reden geben sie sich als Synkretisten zu erkennen — ein Zug, der auch Jesus anhaftet, allerdings in weit geringerem Maße — , und es fehlen ihnen folglich jegliche ethnischen Wurzeln.
    Ihr Charisma reicht nicht aus, um im Menschen das natürliche Streben zum Übernatürlichen hin anzuregen. Als Simon der Magier von Jesus’ Erfolg erfuhr, starb er buchstäblich vor Enttäuschung: Nachdem ihm von Jesus’ Auferstehung berichtet wurde, ließ er sich ebenfalls lebendig beisetzen, was er jedoch nicht überlebte. Ungefähr hundertfünfzig Jahre vor unserer Zeitrechnung wurden die Juden schon einmal von einer solchen Angst ergriffen. Damals waren es die Essener mit ihrem Meister der Gerechtigkeit, die aufrecht blieben. Doch die übrigen Juden, einschließlich der Samariter, die doch aufs heftigste von den Juden abgelehnt wurden, erlagen ihrer Angst; die bis dahin in der Versenkung verschwundene, uralte Idee eines Messias lebte plötzlich wieder auf.
    Nebenbei sei bemerkt, daß in der Welt des 1. Jahrhunderts einzig und allein die Römer nicht von jener religiösen Angst heimgesucht wurden. Für sie bestand kein Grund, an das Ende der Welt zu glauben; das Ende ihrer Welt war noch mehr als vier Jahrhunderte entfernt. Somit ist der Chiliasmus eine Angelegenheit der politisch Besiegten.
    Aus jener Erwartungshaltung erwächst natürlich auch der Mythos. Der Glaube an eine handelnde Gottheit mündet unweigerlich in die Erschaffung einer außergewöhnlichen Persönlichkeit, die in der Regel halbgöttlicher Abstammung ist — in unserem Fall also eines Messias — , und in den Opferbegriff. Um die Katharsis zu schaffen und Gott zum Einschreiten zu zwingen, bedarf es eines Opfers, und wer eignet sich besser dazu als die Gestalt des Helden?
    Alle Mythen entstehen auf diese Weise. Der obligatorische Held ist immer
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