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Ein Lied für meine Tochter

Ein Lied für meine Tochter

Titel: Ein Lied für meine Tochter
Autoren: Jodi Picoult
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out with the …«
    Das Ende lasse ich offen. Wir alle haben automatisch das Verlangen, einen Satz zu vollenden, den wir kennen, und deshalb hoffe ich, dass Mr. Docker crowd murmeln wird, das letzte Wort der Strophe. Ich schaue ihn an, doch die Maraca in seiner Hand bleibt stumm.
    »Buy me some peanuts and Cracker Jack; I don’t care if I never get back.«
    Ich singe weiter und stelle mich vor ihn. »Let me root, root, root, root for the home team; if they don’t win, it’s a shame. For it’s one, two, three …«
    Plötzlich fliegt Mr. Dockers Hand hoch, und die Maraca trifft mich am Mund. Ich schmecke Blut. Ich bin so überrascht, dass ich zurücktaumele, und mir treten die Tränen in die Augen. Ich drücke den Ärmel auf die Platzwunde an meiner Lippe und versuche zu verbergen, dass er mich verletzt hat. »Habe ich Sie irgendwie verärgert?«
    Mr. Docker antwortet mir nicht.
    Die Maraca ist auf seinem Bett gelandet. »Ich werde jetzt hinter Sie greifen und mir das Instrument nehmen«, sage ich vorsichtig, und als ich das tue, schlägt er abermals nach mir. Diesmal stolpere ich, pralle gegen den Tisch und werfe das Frühstückstablett herunter.
    »Was ist denn hier los?«, schreit Wanda und platzt zur Tür herein. Sie schaut von mir zu dem Chaos auf dem Boden und dann zu Mr. Docker.
    »Wir sind okay«, beruhige ich sie. »Alles in Ordnung.«
    Wanda wirft einen besorgten Blick auf meinen Bauch. »Sind Sie sicher?«
    Ich nicke, und sie verlässt den Raum wieder. Diesmal setze ich mich vorsichtig auf die Heizung am Fenster. »Mr. Docker?«, frage ich in sanftem Ton. »Stimmt etwas nicht?«
    Als er sich zu mir umdreht, schimmern Tränen in seinen Augen. Er ist vollkommen klar. Er lässt seinen Blick durch den Raum schweifen, von den typischen Krankenhausvorhängen zu dem Erste-Hilfe-Kasten im Regal hinter dem Bett und dem Plastikkrug voll Wasser auf dem Nachttisch. »Alles«, antwortet er knapp.
    Ich denke über diesen Mann nach, über den die wichtigsten Wirtschaftszeitungen des Landes einst regelmäßig berichteten. Diesen Mann, der über Tausende von Angestellten geherrscht und seine Tage in einem luxuriös ausgestatteten Eckbüro verbracht hat, mit Plüschteppich und Ledersessel. Einen Augenblick lang will ich mich dafür entschuldigen, seinen blockierten Geist mit Musik befreit zu haben.
    Denn es gibt Dinge, die wohl jeder gern vergisst.
    Die Puppe, die ich am Todestag meines Vaters im Garten unserer Nachbarin vergraben habe, hieß Sweet Cindy. Ich hatte sie mir ein Jahr zuvor zu Weihnachten gewünscht, angefixt von den Werbespots während der sonntäglichen Zeichentrickfilme. Sweet Cindy konnte essen und trinken, pinkeln und einem sagen, dass sie einen liebt. »Kann sie auch einen Vergaser reparieren?«, hatte mein Vater gescherzt, als ich ihm meinen Wunschzettel zeigte. »Und das Badezimmer putzen?«
    Ich war bekannt dafür, Puppen schlecht zu behandeln. Meinen Barbies hatte ich mit einer Nagelschere das Haar abgeschnitten, und Ken hatte ich geköpft – allerdings muss ich zu meiner Verteidigung sagen, dass das die Folge eines Fahrradunfalls war. Er saß in meinem Lenkradkorb. Doch Sweet Cindy habe ich behandelt, als wäre sie mein Baby. Jede Nacht habe ich sie in eine Puppenwiege neben meinem Bett gelegt, und täglich habe ich sie gebadet und in einem Puppenkinderwagen die Einfahrt rauf und runter geschoben.
    An dem Tag, an dem mein Vater gestorben ist, wollte er eine Fahrradtour machen. Das Wetter war wunderschön. Ich hatte gerade gelernt, ohne Stützräder zu fahren. Aber ich habe meinem Vater gesagt, dass ich mit Cindy spielen wollte und wir ja vielleicht später fahren könnten. »Klingt nach einem Plan, Zoe«, hatte er gesagt und begonnen, den Rasen zu mähen. Natürlich hat es ein Später nie gegeben.
    Hätte ich Sweet Cindy doch nie zu Weihnachten bekommen.
    Hätte ich doch Ja gesagt, als mein Vater mich gefragt hat.
    Hätte ich ihn doch im Auge behalten, anstatt mit meiner Puppe zu spielen.
    In meiner Vorstellung gab es tausend Möglichkeiten, wie ich mich anders verhalten und meinen Vater hätte retten können. Und deshalb sage ich mir seitdem immer wieder, dass ich die dumme Puppe eigentlich nie haben wollte und dass sie am Tod meines Vaters schuld war.
    Als es nach dem Tod meines Vaters zum ersten Mal schneite, habe ich Sweet Cindy im Traum auf meinem Bett sitzen sehen. Krähen hatten ihr die blauen Augen ausgehackt, und sie zitterte.
    Am nächsten Tag holte ich mir einen Spaten aus der
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