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Ein Lied für meine Tochter

Ein Lied für meine Tochter

Titel: Ein Lied für meine Tochter
Autoren: Jodi Picoult
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ich schon seit über einem Jahr regelmäßig hierherkomme, um mit verschiedenen Bewohnern zu arbeiten. »Wie geht es ihm heute?«, frage ich.
    »Wie immer«, antwortet Wanda. »Er hängt am Kronleuchter und unterhält die Massen mit Stepptanz und Schattenspiel.«
    Ich grinse. Mr. Docker leidet unter Demenz im Endstadium. Seit zwölf Monaten bin ich jetzt seine Musiktherapeutin, und ich habe erst zweimal zu ihm durchdringen können. Meist sitzt er einfach nur auf seinem Bett oder in seinem Rollstuhl und starrt durch mich hindurch, ohne dass ich ihm eine Reaktion entlocken könnte.
    Wenn ich den Leuten sage, dass ich als Musiktherapeutin arbeite, dann glauben sie, ich würde für die Patienten im Krankenhaus auf der Gitarre spielen. Sie halten mich für eine Künstlerin. In Wirklichkeit ist mein Job jedoch dem eines Physiotherapeuten deutlich ähnlicher als dem eines Musikers, statt Gymnastikgeräten setze ich Musik ein. Und wenn ich den Leuten das erkläre, dann halten sie es meist für esoterischen Mist.
    In Wahrheit hat mein Beruf jedoch eine fundierte wissenschaftliche Basis. Bei Hirnscans ist deutlich zu sehen, wie Musik die Aktivität im Frontallappen fördert und Erinnerungen auslöst. Plötzlich sieht man einen Ort, eine Person oder ein Ereignis aus seiner Vergangenheit. Manchmal – und auch das kann man auf einem Monitor deutlich sehen – sind diese Erinnerungen auch sehr lebendig. Aus diesem Grund können Schlaganfallpatienten sich oftmals zuerst an Liedtexte erinnern, bevor sie ihr Sprachvermögen zurückerlangen, und Alzheimerpatienten erinnern sich an Lieder aus ihrer Jugend.
    Und das ist auch der Grund, warum ich Mr. Docker noch nicht aufgegeben habe.
    »Danke für die Vorwarnung«, sage ich zu Wanda und nehme meine Tasche, meine Gitarre und meine Djembé.
    »Stellen Sie das wieder hin«, beharrt Wanda. »Sie sollen doch nicht so schwer tragen.«
    »Dann sollte ich mich wohl beeilen«, erwidere ich und berühre meinen Bauch. Ich bin in der achtundzwanzigsten Woche und schon ziemlich rund – und ich lüge, dass sich die Balken biegen. Ich habe viel zu lange für dieses Baby gekämpft, als dass ich irgendeinen Teil der Schwangerschaft als Last empfinden könnte. Ich winke Wanda zu und gehe den Flur hinunter, um mit der heutigen Sitzung zu beginnen.
    Für gewöhnlich kommen meine Patienten im Heim zu Gruppensitzungen zusammen, doch Mr. Docker ist ein spezieller Fall. Mr. Docker ist der ehemalige Vorstandsvorsitzende eines Fortune-500-Unternehmens, und jetzt lebt er in diesem äußerst eleganten Heim. Seine Tochter, Mim, hat mich einmal in der Woche für Einzelsitzungen engagiert. Mr. Docker ist fast achtzig, hat eine weiße Löwenmähne und knochige Hände, mit denen er früher einmal ziemlich gut Jazz auf dem Klavier gespielt hat.
    Es ist nun schon zwei Monate her, seit Mr. Docker meine Gegenwart das letzte Mal bewusst wahrgenommen hat. Ich spielte auf der Gitarre, und er schlug zweimal mit der Faust auf die Lehne seines Rollstuhls. Ich bin nicht sicher, ob er mitmachen oder mir zu verstehen geben wollte, dass ich aufhören sollte, in jedem Fall war er im Takt.
    Ich klopfe und öffne die Tür. »Mr. Docker?«, sage ich. »Ich bin’s. Zoe. Zoe Baxter. Haben Sie Lust auf ein wenig Musik?«
    Irgendein Pfleger hat ihn in einen Sessel gesetzt, von wo aus er aus dem Fenster schauen kann. Oder vielleicht schaut er auch nur ins Nichts, fokussiert ist sein Blick jedenfalls nicht. Seine verkrampften Hände liegen wie Hummerscheren in seinem Schoß.
    »Dann wollen wir mal!«, sage ich in lebhaftem Ton und suche mir einen Weg um das Bett, den Fernseher und den Tisch mit dem unberührten Frühstück herum. »Und? Was sollen wir heute singen?« Ich warte kurz, obwohl ich nicht mit einer Antwort rechne. »You Are My Sunshine?« , frage ich. »Oder lieber den Tennessee Waltz? « Ich versuche, meine Gitarre in dem winzigen Bereich neben dem Bett auszupacken, der für mein Instrument und meine Schwangerschaft einfach nicht genügend Raum bietet. Unbeholfen platziere ich die Gitarre auf meinem Bauch und spiele ein paar Akkorde. Dann kommt mir eine Idee, und ich stelle sie wieder beiseite.
    Ich krame in meiner Tasche nach einer Maraca. Für genau solche Gelegenheiten wie diese hier habe ich immer alle möglichen Kleininstrumente dabei. Sanft drücke ich Mr. Docker die Maraca in die Hand. »Nur für den Fall, dass Sie mitmachen wollen.« Dann beginne ich, leise zu singen: »Take me out to the ball game; take me
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