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Ein Jahr in New York

Titel: Ein Jahr in New York
Autoren: Nadine Sieger
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nachzudenken nach links aufschloss?

    Samstagabend um zehn stand ich im Aufzug des schicken W-Hotels. Der unbekannte Richard feierte seinen Geburtstag in einem der Zimmer und nicht an der Hotelbar, in der ich erst nach der Geburtstagsrunde Ausschau hielt. Kaum stand ich in dem modern eingerichteten Raum mit dem riesigen Bett und einer eleganten grauen Polstergarnitur, fing Miriam an, mich vorzustellen. Jedem Einzelnen. „Hey Josh, das ist Nadine. Nadine, das ist Josh. Nadine ist grad erst nach New York gezogen.“ So ging es immer weiter, bis ich zwei Stunden später wie ein Kreisel durchs Zimmer gewandert war und mit allen Anwesenden gesprochen hatte. Mir wirbelten lauter kosmopolitische Namen durch den Kopf. Neelam, Lara, Laura, Dave, Kyoko ... „It’s soooo nice to meet you! – Es ist sooo schön, dich kennenzulernen!“, hörte ich aus jedem Mund mit übertriebener Betonung auf dem „sooo“. In meinem Geiste zuckte jedes Mal der Satz „Aber ihr kennt mich doch eigentlich alle noch gar nicht“ auf, den ich brav mit einem Lächeln auf den Lippen herunterschluckte. Ich wurde von einem Small Talk zum nächsten gereicht und bewunderte die Amerikaner für ihr Talent der leichten Unterhaltung, das mir eindeutig fehlte. Mühelos konnten hier alle minutenlang ein beiläufiges Gespräch in Gang halten und wirkten dabei völlig entspannt und interessiert dazu. Ich hingegen fühlte mich wie in einer Quizshow, bemüht, immer die richtigen Antworten zu geben,und dabei leicht verspannt. Es klopfte an der Zimmertür und ein Pizza-Boy trug riesige Kartons mit Pizza herein. Das Geburtstagsdinner. Zum Dessert kam Laura, die Frau des Geburtstagskindes, mit einer riesigen, bunten, kitschigen Geburtstagstorte herein, bei deren Anblick allein ich schon Zahnschmerzen bekam. Dazu gab es ein jubelndes „Happy-Birthday-Ständchen“ und einen großen Teller Cup Cakes. Kleine Teigtörtchen mit mächtigen Zuckerguss-Häubchen in allen erdenklichen Pastelltönen, die auf keiner amerikanischen Geburtstagsfeier fehlen durften.
    „Iss die bloß nicht, die sind wirklich widerlich“, hörte ich jemanden über meine Schulter sagen. Ich drehte mich um und vor mir stand ein großes Mädchen mit eigensinnigen blonden Locken, das sich mit Noelle vorstellte. Sie grinste unternehmungslustig wie eine Sechsjährige. Noelle war groß und ihre eher nicht so elfenhafte Statur unterstrich ihre unverblümte Direktheit. Sie war Studentin von Fächern, die auf keinen konkreten Beruf schließen ließen. „Ja, mal gucken, hab noch keine Ahnung, was ich nach dem Studium mal machen möchte“, erklärte sie ihre willkürliche Wahl der Fächer. Sie war etwas jünger als ich, aber gab mir gleich zu verstehen, dass sie sich als Einheimische für mich heimatlosen Ausländer verantwortlich fühlte. Das war mir nur recht. Sie kam eigentlich aus Chicago, lebte aber schon seit zwei Jahren in der Stadt. „Du wohnst in Harlem. Das gibt’s ja nicht, da wohne ich auch! Du musst unbedingt mal zum Essen vorbeikommen“, sagte Noelle. Bingo, endlich eine Leidensgenossin. „Gerne, dann kann ich ausnahmsweise mal zu Fuß nachhause laufen“, sagte ich, und wir stießen lachend mit unseren Coronas an. Ich schaute aus dem Fenster und hatte eine Gänsehaut. Das lebhafte Rauschen der Straße war bis in den 18. Stock zu hören. Dieser tiefe nächtliche Einblick in die Stadt, in der es überall flimmerte,blinkte und hupte, war so unwirklich. Unter uns lag der Union Square, die bedeutendste und historischste Verkehrsschnittstelle der ganzen Stadt. Hier trafen sich so gut wie alle U-Bahnen aus den verschiedensten Himmelsrichtungen: Die W-, N-, Q- und R-Trains, die sich von der südlichen Spitze Brooklyns durch Manhattan bis nach Queens schlängeln. Der L-Train, der als einziger horizontal aus dem Westen durch Manhattan stößt und tief im östlichen Brooklyn endet. Die 4-, 5- und 6-Trains, die aus dem hohen Norden der Bronx horizontal durch ganz Manhattan bis in das Herz von Brooklyn fahren. Egal, wo man hier stand, irgendwo hörte man durch die Straßenroste immer eine U-Bahn rattern oder hupen. Überirdisch markiert der Union Square mit der 14. Straße die Grenze zu Downtown Manhattan. Fünf verschiedene Neighborhoods treffen hier aufeinander: der Flatiron District nördlich, Chelsea westlich, Greenwich Village und New York University südlich und Gramercy östlich. Es war schon spät, aber der Park vibrierte. Der Union Square ist so eine Art 24-Stunden-Markplatz. Hier
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