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Ein Jahr in New York

Titel: Ein Jahr in New York
Autoren: Nadine Sieger
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dieses visitenkartengroße Stück Papier war die eigene Identität wertlos. Diese Karte war Vorraussetzung für alle menschlichen Grundbedürfnisse. Auch meine. Ich brauchte sie für meinen Job, um eine Wohnung zu finden und ein Konto einzurichten. Sie war notwendig, um Krankenversicherungen und Telefonverträge abzuschließen.
    „Und ich sag dir, ohne diese 500 000‚ other-than-legal-immigrants‘, wie sie so schön von den Behörden einkategorisiert werden, würde die New Yorker Infrastruktur wie ein Kartenhaus zusammenbrechen“, fügte Val hinzu. Das hatte selbst Mayor Bloomberg unverblümt vorm Senat kundgetan. Babys hätten keine Nannys mehr. Die Taxis kämen zum Stillstand. Die Mülleimer würden überquellen. Die Patienten in den Krankenhäusern müssten sich ihr Essen selber holen. Und die Früchte für die Farmers’-Märkte in Manhattan würden noch auf den Feldern verrotten. Deshalb galt in New York der tolerante Grundsatz: „Don’t ask, don’t tell.“ Der Immigrantenstatus war Privatsache.
    Aber nicht nur Einwanderer aus Dritte-Welt-Ländern führten hier ein Schattendasein. Auch für Europäer waren die strengen Visa-Regulierungen oft ein Hindernis und einGrund, ins illegale Leben abzutauchen. Deshalb hofften so viele auf die legendäre Green Card, die unbefristete Aufenthalts- und vor allem Arbeitsgenehmigung. Für den Freischein ins amerikanische Glück wurde noch immer am laufenden Band scheingeheiratet. Diese Ehen stellten in New York nicht nur den Stoff für Kinokassenschlager, sie waren Alltag. Und etliche Europäer nahmen Jahr für Jahr hoffnungsvoll an der Lotterie teil. Ronald Reagan war 1987 die wunderbare Idee gekommen, jedes Jahr 55 000 „Diversity Immigrant Visa“, sprich Green Cards, nach dem Zufallsprinzip zu verlosen, um die ethnische Vielfalt des amerikanischen Spirits zu sichern. Fast 1500 Deutsche gewannen in der letzten Runde eine Green Card. Auch ich hatte mein Glück versucht. Hatte mein Foto eingesendet, mich dabei streng an die Vorschriften gehalten und mir mit Edding weder Brille noch Bart aufgemalt. Das, so drohte die Website, führe zur sofortigen Disqualifikation. Tatsächlich? Na, wenigstens nicht zur Todesstrafe oder Deportation, dachte ich damals ironisch. Manchmal bewegte der Bürokratenirrsinn sich hier wie in Deutschland auf Kindergartenniveau.
    „Selbst Präsident Bush hat das Dilemma eingesehen und vorgeschlagen, illegalen Immigranten die Option einzuräumen, ihren Status zu legalisieren. Zum ersten Mal in seiner Amtszeit hat er eine sinnvolle Idee, und dann bläst ihm von allen Seiten heftiger Widerstand ins Gesicht“, sagte Valerie und schlug dabei trotzig mit ihrem Maiskolben auf den Teller. „Da haben seine Gegner ihn anscheinend mit den eigenen Waffen geschlagen und die nationale Sicherheit als Argument gegen die illegalen Einwanderer missbraucht“, entgegnete ich. „Ja, die Terroristennummer funktioniert seit 9/11 ganz hervorragend. Verstöße gegen die Privatsphäre? Natürlich nur im Sinne der Sicherheit. Folter in Abu Ghraib? Natürlich nur wegen der Sicherheit. SchlechteUmfragewerte? Schnell wieder auf Code Orange Terror Alarm umschalten und die volle Aufmerksamkeit auf die gefährdete nationale Sicherheit lenken. Die Angst vor Terrorismus hat sich bei den Politikern als gängiges Manipulationswerkzeug etabliert. Wo das wohl noch hinführt?“ Ich hörte Valerie, nickte zustimmend, aber war in Gedanken schon wieder bei meiner eigenen Zukunftsfrage.
    „Warum bleibst du hier, schlägst dich mit Mühe und Not finanziell durch, obwohl du in Kalifornien jeden Tag bezahlt auf der Bühne stehen und in einem eigenen Haus mit Garten leben könntest?“, fragte ich Val, die ich überredet hatte, nach dem Essen noch mit einem Frozen Margarita to go, der inkognito im Milchshake-Becher rausgegeben wurde, am Ufer des East River vorbeizuschauen. Wir entfernten uns von der fröhlich schnatternden, bevölkerten Bedford Avenue und schlenderten durch die immer einsamer werdenden, orange beleuchteten Straßen Richtung Wasser. „Weil New Yorker sich jede Meinung leisten können. Weil der Zusammenstoß von Millionen unterschiedlicher Menschen, Kulturen und Nationalitäten den New Yorkern eine selbstverständliche Toleranz aufzwingt, die man sonst nirgendwo findet und die Flachdenken verhindert. Trotz Platzmangel gibt es reichlich Raum zum anders Denken und Sein.“ Für Vanessa war es der Kontrast: „Die Dritte Welt direkt neben der Ersten Welt, heiß, eisig,
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