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Ein Jahr in New York

Titel: Ein Jahr in New York
Autoren: Nadine Sieger
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trifft man sich, um in eines der vielen umliegenden Kinos zu gehen, auf dem Farmers Market frisches Gemüse von lokalen Bauern zu kaufen oder einfach nur, um im Sommer auf einer der Wiesen zu liegen und zu lesen oder einem der vielen Unterhaltungskünstler zuzuschauen. Außerdem ist der Union Square bekannt als New Yorks Plattform für politischen Protest. „Wusstest du, dass hier schon im 19. Jahrhundert demonstriert wurde?“, fragte mich Noelle. Das wusste ich nicht, aber noch heute fangen die meisten Demos der Stadt am Union Square an oder finden hier ihr Ende. Auch politischen Alleingängern bietet der Platz vor den Treppenstufen auf der Südseite eine perfekte Bühne für ihre Protest-Tiraden gegen Präsident Bush, den Krieg im Irak oder ganz lapidar die Erhöhung der U-Bahn-Tarife.Wer ein Problem hat, wird es hier lauthals los. Leider ist nicht jedes Problem von öffentlichem Interesse und es wird auch reichlich Unsinn durchs Megafon gebrüllt. „Schlimm wird’s, wenn mehrere Parteien um die Wette lärmen. Wenn die Protestanten versuchen, die laut gesungen Mantras der kahl geschorenen, mit Tamburins bewaffneten Hare Krishna-Mönche in den orangefarbenen Kutten zu übertönen“, warf ich ein. An manchen Tagen hatten diese monotonen Mantragesänge, die ursprünglich aus Indien stammen und sich seit den Sechzigern in der westlichen Welt ausbreiten, etwas Beruhigendes, geradezu Meditatives. Manchmal wünschte ich mir jedoch, ich könnte ihre dominante Geräuschkulisse einfach auszuschalten. Da waren die Hip-Hop-Beats der Breakdance-Jungs besser zu ertragen. Mit ihren gestählten Körpern führten sie die unglaublichsten Verrenkungen vor und waren jedes Mal im Handumdrehen von einem breiten Menschenring mit begeistertem Publikum umzingelt, das bei jeder Nummer euphorisch applaudiert. „Eins steht fest“, so Noelle, „egal zu welcher Jahres- und Tageszeit, am Union Square ist immer Bewegung.“

    Meine E-Mails wurden immer kürzer, meine Anrufe immer seltener. Aus Deutschland gingen die ersten Beschwerden ein. Ich ließe auf einmal nichts mehr von mir hören. Aber die Tage vergingen plötzlich wie im Flug, und ich kam kaum einen Abend vor Mitternacht nachhause. Miriam und Noelle gemeindeten mich in ihren amerikanischen Freundeskreis ein. Anfangs hatte ich jedes Mal noch das Bedürfnis, missionarisch zu erklären, dass Bekannte in Deutschland nicht automatisch Freunde sind. Die Amerikaner hörten mir höflich zu, und ich musste mir bald eingestehen, dass Amerikaner nicht so oberflächlich sind, wie wir Deutschen gerne behaupten.
    Thanksgiving stand vor der Tür und damit der bedeutendste amerikanische Feiertag überhaupt. Jedes Jahr am vierten Donnerstag im November findet im Kreise der Familie ein ganztägiger Festtagsschmaus statt, dessen historische Wurzeln bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen. Man bedankt sich beim lieben Gott für die hervorragende Ernte. Das natürlich nur noch symbolisch. Trotzdem feiert das komplette Land, von Seattle bis New York, schablonenhaft die gleichen Rituale ab. Eigentlich wird nur gegessen. Den ganzen Tag. Und die Hauptattraktion ist der Truthahn. Über fünf Millionen Vögel brutzeln jedes Jahr an Thanksgiving in den amerikanischen Backöfen. Deshalb nennt man den Tag auch zu Recht „Turkey Day“. Wer kein Fleisch isst, bekommt einen Tofurkey serviert – ein aus Tofu geformter Veggie-Truthahn, der dem lebenden Original optisch erstaunlich nahekommt. Dazu kommen Kartoffelpüree, grüne Erbsen, Kürbisgemüse, Cranberry Sauce und Mais auf den Tisch. Überall, ausnahmslos. Als der Monat begann, habe ich mich schon alleine in meiner Wohnung sitzen sehen und war mir sicher, dass ich diesen Tag E-Mail-schreibend zuhause verbringen würde. Mit simplen Pesto-Spaghetti statt Truthahn. Keine Familie, kein Thanksgiving, so dachte ich.
    „Natürlich feierst du mit uns“, so Noelle. „Bei uns ist auf jeden Fall noch ein Platz frei, wenn du kommen möchtest“, lud mich Vanessa ein. „Wir würden uns freuen, wenn du dabei bist“, sagte Miriam. So hatte ich kurz vor Thanksgiving gleich drei Einladungen.

    In großen Städten wie New York werden Freundeskreise zum Familienersatz. Restaurantgesättigte Menschen, die 364 Tage ignorieren, dass sie einen Herd haben, veranstalten plötzlich große Koch-Orgien. Ich entschied mich, mit Noelleund ihren Freunden von der Uni zu feiern. In Brooklyn. Um 11 Uhr morgens saß ich schon im Zug, und hätte ich geahnt, dass man an Thanksgiving
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