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Ein Jahr in New York

Titel: Ein Jahr in New York
Autoren: Nadine Sieger
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Zeitsparmaßnahme überfordert. Mittlerweile wusste ich selbst von jeder U-Bahn-Station ganz genau, wo man in welchen Zug steigen musste, um an der gewünschten Treppe zum Ausgang oder Umsteigen abgesetzt zu werden. Warum Zeit vergeuden, wenn man sie auch sparen kann, war plötzlich meine Einstellung.

    Ich weiß nicht mehr genau, ob es der Dezember war, der mich besonders auf die Probe stellte, oder ob dieser Monat erst dazu führte, dass ich plötzlich keine Geduld mehr hatte. Die Weihnachtssaison hatte begonnen, und mein Büro lag wie ein Aussichtsturm mittendrin. Jeden Tag spuckten Busse Hunderte von Touristen aus dem ganzen Land aufdie Gehwege Midtowns. Seniorengruppen liefen aufgeregt wie Schulkinder hin und her, ohne sich dabei von der Stelle zu bewegen. Erzieher manövrierten ihre kleinen Schützlinge in mit Seilen abgesteckten Quadraten und blockierten damit den kompletten Bürgersteig. Und die Weihnachts-Hauptattraktion befand sich ausgerechnet im Erdgeschoss unseres Gebäudes: „The Christmas Spectacular“ in der Radio City Hall. Wegen derer allein lungerten am Jahresende eine Million Besucher vor unserem Eingang rum und verstopften alles.
    Die Show sei amerikanisches Weihnachts-Pflichtprogramm, erklärte mir Noelle, als ich mich über den Massenandrang beklagte. Tradition seit über siebzig Jahren. Jeder Ami muss sich mindestens ein Mal in seinem Leben die Rockettes anschauen, die mit ihren langen schlanken Beinen über die Bühne tanzen. Die Durchschnittszuschauer, die mir jeden Tag den Weg zum Mittagessen versperrten, neigten hingegen eher zu Übergewicht. Ich hatte mich schon die ganze Zeit gefragt, wo hier die Fast-Food-Nation-Exemplare rumlaufen. Und es stimmte wie so oft: New York ist nicht Amerika. Aufgefallen waren mir in dieser Stadt, ganz im Gegenteil, bisher nur die Bohnenstangen in Kleidergröße null. XXL-Gestalten sah man hier kaum mehr als in Hamburg. Das ändert sich mit dem Beginn der Weihnachtszeit. Der Midwest, das provinzielle Amerika, fiel über Midtown her. Auffallend viele Super-Size-Körper ruderten mit ihren Armen und hochroten Köpfen schnaufend von Block zu Block. „Kein Wunder, die fahren zuhause ja selbst zum Briefkasten mit dem Auto. Von der 6 th bis zur 5 th Avenue zu laufen ist für manche sicher schon ein kleiner Marathon“, spottete meine Kollegin Daniela, als wir mittags mal wieder hinter einer schleichenden Reisegruppe älteren Jahrgangs feststeckten.
    Die Frauen trugen Einheits-Anoraks, makellos weiße Reeboks und schrieen sich gegenseitig aufgeregt ins Gesicht. „O mein Gott, schaut mal, da steht ein Kamel auf dem Bürgersteig!“, quietschte eine. Daniela und ich schauten uns an, rollten mit den Augen. Nein, die Frau hatte nicht ihren Verstand verloren. Das Kamel war Teil der Christmas Show und hier, so zusammenhangslos auf dem Bürgersteig mitten in New York, natürlich eine Sensation. Ah ja, da kamen auch gleich Santa Claus aus der Tür und einige seiner Elfen. Die Frauen kicherten laut und aufgeregt und übertönten damit meinen knurrenden Magen. Ich hatte Hunger. „Lass uns auf dem Rückweg durch die unterirdische Passage zurücklaufen“, schlug Daniela vor.
    Wir hätten es besser wissen sollen. Die Rolltreppe spuckte uns direkt in den nächsten Menschenstau. Wie in einer verstopften Arterie arbeiteten wir uns langsam vor. Vorbei am Schuster, vor dem die Touristen laut staunend durch die Scheibe starrten. Aufgereiht saßen dort Männer in schicken dunklen Anzügen auf erhöhten Stühlen, die wie kleine Throne wirkten. In der Hand hielten sie die Times oder die New York Post und lasen. So unbeteiligt, als wüssten sie gar nicht, dass vor ihnen kleine Mexikaner in weinroten Poloshirts und schwarzen Schürzen hockten und ihre Lederschuhe auf Hochglanz polierten. „Ich kann mich, ehrlich gesagt, auch nicht an diesen Anblick gewöhnen. Das hat so etwas Kolonialistisch-Ausbeuterisches“, sagte ich zu Daniela. „Ich weiß, was du meinst. Aber entweder hätten die sonst gar keinen Job oder sie würden in irgendeiner Restaurantküche für ’nen Hungerlohn schuften.“ Natürlich hatte Daniela Recht.

    Abends im Büro hörte ich 26 Stockwerke unter mir hysterische Teenager in Intervallen kreischen und jubeln. „Was istdenn da los?“, wunderte ich mich. „Ach, im Dezember finden ständig Konzerte am Rockefeller Plaza statt. Das wird noch den ganzen Monat so weitergehen. Da musst du dich dran gewöhnen“, antwortete Vanessa lakonisch. Der Lärmpegel erreichte
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