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Ein Jahr in New York

Titel: Ein Jahr in New York
Autoren: Nadine Sieger
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ließ keinen Zweifel an seiner Autorität. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, prasselten seine Fragen wie aus einer Maschinenpistole auf mich nieder. Ungeduldig wedelte er mit meinem Reisepass und kaute dabei gelangweilt sein Kaugummi. „Könnten Sie die letzte Frage bitte wiederholen“, fragte ich eingeschüchtert. Dass ich ganz offensichtlich weder amerikanische Staatsbürgerin noch jemals Gast in diesem Land war, schien er mit Genugtuung zu ignorieren und sprach fast noch undeutlicher, als er die Frage noch mal stellte. Ah, meine Fingerabdrücke, ja richtig, natürlich, wegen der Sicherheit. „Bitte noch mal, und vorher den Finger auf dem Pad befeuchten, der ist viel zu trocken“, zischte er mich an. Also noch mal ein fester Druck links, danach der Zeigefinger rechts. Ein übermüdetesLächeln in die winzige Kamera, und ich war drin. Sicher gespeichert im Computersystem der amerikanischen Einwanderungsbehörde und erleichtert eingereist in das Land der unbegrenzten Möglichkeit. Bei der Reisepass-Übergabe presste er sich noch ein „Have a nice stay“ durch die kaum geöffneten Lippen. Ja, einen schönen Aufenthalt, genau das wünschte ich mir auch. In der Empfangshalle erwartete uns Neuankömmlinge ein Schwarm Limousinenfahrer. Bewaffnet mit handbeschrifteten Pappschildern starrten sie erwartungsvoll in jedes Gesicht, in der Hoffnung den erwarteten Fahrgast schnellstmöglich in Manhattan abzuliefern. Auf mich wartete niemand. Über acht Millionen Menschen in dieser Stadt und alles Fremde.

    „Hi, ich bin Bob. Schön dich kennenzulernen“, stellte sich mein Nachbar im Bus vor, noch bevor ich auf meinem Platz saß. Natürlich ohne Nachnamen. In diesem Land, in dem die Sprache nur „du“ und kein „Sie“ kennt, wurde auf überflüssige Förmlichkeit offensichtlich verzichtet. Bob war etwa fünfzig. Ein attraktiver Mann in einem dunklen Anzug und leicht grauem Haar, irgendwie kreativ. Oder bildete ich mir das nur ein, weil ich zwangsläufig jeden New Yorker für ein kreatives Genie hielt? Nett und wahnsinnig höflich war er ohne Zweifel. Ich fühlte mich gleich ein bisschen weniger allein in dieser großen Stadt, die mein neues Zuhause werden sollte. Als ich ihm erzählte, dass ich das allererste Mal hier bin, war er fast so aufgeregt wie ich. „That is so exciting“, sagte er immer wieder und erzählte, dass er schon seit über zwanzig Jahren in New York lebt und für immer hier bleiben wolle. „New Yorker ist man nicht aus Zufall, sondern aus Leidenschaft“, unterstrich er seine Entscheidung. An New York gebunden, ganz ohne Fesseln. Er hörte mir mit größtem Interesse zu und ignorierte ganzoffensichtlich meine holprige Aussprache. Unter keinen Umständen würde sich ein Amerikaner anmerken lassen, dass er gerade mit einem nach Worten und grammatikalisch korrekten Sätzen ringendem Ausländer kommunizierte. Jeder Fehler wird galant ignoriert und auf jeden noch so kurzen Schlagabtausch folgt meistens ein überschwängliches Kompliment. Fast so, als wäre man adoptierter Muttersprachler. Auch wenn sich der deutsche Akzent meist schon beim ersten Satz ins Ohr bohrt. Denn das Zungenbrecher-„th“, das uns meistens nur als scharfes „ß“ durch die Zähne rutscht, entlarvt die Deutschen sofort. Stichwort „Happy Börssssday“. Amerikaner musste man regelrecht anflehen, auf immer wiederkehrende Fehler hinzuweisen. Und davon gab es bei mir einige. „Den zweiwöchigen Sprachkurs in der School of English in Hamburg hätte ich mir wirklich sparen können“, erzählte ich Bob frustriert, als ich ihm im Bus einen vorstammelte. „Ihr Deutschen wollt immer perfekt sein. Hauptsache, das Vokabular reicht für ganze Sätze“, entgegnete Bob ermutigend.
    Mein erstes englisches Gespräch außerhalb eines Klassenzimmers erforderte so viel Konzentration, dass Bob mich daran erinnern musste, zwischendurch auch mal aus dem Fenster zu schauen. „Genau hier habe ich auch nach so vielen Jahren noch immer eine Gänsehaut!“, rief er feierlich, als am Horizont plötzlich die Silhouette der Wolkenkratzer auftauchte. Wie oft hatte ich diese legendäre Linie schon gesehen. Auf Postkarten, im Fernsehen, in Zeitschriften, aber noch nie live. Augenblicklich überfiel auch mich eine Gänsehaut, die anhielt, bis der Bus am Grand Central stoppte. Statt sich einfach zu verabschieden, wuchtete Bob meine zwei schweren Taschen aus dem Kofferraum und trug sie mir in die Bahnhofshalle. „Ich wünsche dir eine ganz tolle Zeit
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