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Ein Jahr in New York

Titel: Ein Jahr in New York
Autoren: Nadine Sieger
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Frage zu stellen. Hier unten war es einfach netter. Kleine Boutiquen, niedliche Restaurants, schöne Menschen und dann diese alte St. Patrick’s Cathedral, direkt gegenüber vom Gitane, die von zwei alten Friedhöfen mit riesigen Bäumen eingerahmt war. Die älteste Kathedrale der Stadt, das hatte fast schon etwas Dörfliches, mitten in New York. Hinzu kam, dass ich diese mitleidigen Blicke leid war, die sich jedes Mal bei meinem Gegenüber einstellten, wenn ich erwähnte, dass ich in Harlem wohnte. Irgendwie war das wohl so, als wenn man behauptete, in Hamburg City zu wohnen, und eigentlich in Barmbeck lebte. Ich hatte es schnell begriffen. Ein echter New Yorker wohnt downtown, also unterhalb der 14. Straße. Einige vermieden die Überschreitung dieser Grenze, die für manche zur Lebenseinstellung wurde, als wenn man auf der anderen Seite seinen Ruf zu verlieren hätte. Uptown war für viele einfach uncool. Harlem erst recht.

    Für einen Zwischenstopp zuhause blieb wie immer keine Zeit. Jeden Morgen musste ich schon strategisch einplanen, was ich am Abend vorhatte. Auch mit Miriam traf ich mich, wie in New York üblich, gleich nach der Arbeit. Miriam war etwa dreißig, arbeitete für eine amerikanische Textilfirma und lebte schon seit Ewigkeiten in New York. Wir wartetendraußen vor der Tür auf einen Platz, weil es drinnen zu eng war. Miriam erzählte beiläufig, dass sie kürzlich Naomi Watts hier hat essen sehen und einige andere Hollywoodstars. Das unprätentiöse Lokal mit den wenigen Tischen sah überhaupt nicht so aus, als wenn man hier sehen und gesehen werden wollte. Schaut man sich die Gäste allerdings näher an, war offensichtlich, dass sich hier alle große Mühe gaben, gut auszusehen. „Hättest du lieber einen Rot- oder einen Weißwein?“, fragte Miriam mich, als wir endlich saßen, und wusste gar nicht, wie sehr ich mich darauf freute, endlich auch in New York das zu tun, was für mich in Hamburg alltäglich war. Mit Freunden essen gehen.
    „Mein guter Freund Richard feiert nächsten Samstag seinen Geburtstag, da musst du unbedingt kommen“, sagte Miriam. Innerlich gratulierte ich mir freudestrahlend. Die erste Aufnahmeprüfung hatte ich also überstanden. Es gab ein Wiedersehen. Eine Geburtstagsfeier, auf der ich quasi niemanden und vor allem nicht das Geburtstagskind kannte. „Gerne. Meinst du, der hat nichts dagegen?“, fragte ich anstandshalber. „Honey, mach dir keine Gedanken, Richard wird sich freuen, wenn du kommst“, sagte sie.
    Richard freute sich also über einen Gast aus Deutschland, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Das kam mir ja schon etwas übertrieben vor. Miriams zutrauliches „Honey“ auch. Ich hatte mich immer noch nicht an diese Herzlichkeiten gewöhnt, die hier allen leicht über die Lippen rutschten. Nur mir nicht. Die Frau in meinem Deli (Feinkostgeschäft), bei der ich morgens immer meine Zeitung kaufte, begrüßte mich kategorisch mit „Good morning, Honey, how are you“. Solche Zutraulichkeiten irritierten mich, und ich fragte mich auch nach vier Wochen noch, ob sie von mir das Gleiche erwartete. Schließlich wollte ich nicht als plumpe Deutsche auffallen, der nichts Besseres einfällt, alsunbeholfen zurückzulächeln. Als selbst ein Obdachloser sich für den Dollarschein mit „Thanks, Sweety“ bedankte, wurde es Zeit, sich anzupassen.
    „Sag mal, was antworten die Leute eigentlich auf dieses ‚What’s up‘?“, fragte ich Vanessa deshalb kurz darauf beim Mittagsessen. Vanessa war mittlerweile mehr Freundin als Kollegin und mein persönlicher Kulturbotschafter. Vanessas Eltern kamen aus China und waren hier hergezogen, bevor Vanessa zur Welt gekommen war. Sie war also eine der wenigen echten gebürtigen New Yorker. Von Kopf bis Fuß. Wortwörtlich. „Das fühlte sich wirklich komisch an“, erzählte sie mir einmal, „dieses Kitzeln unter der Fußsohle. Ich trage lieber Schuhe.“ Die Rede war von ihrem ersten Mal barfuß auf Gras. Mit Anfang zwanzig, im Englischen Garten in München, als sie ihren deutschen Freund besucht hatte. Ich dachte erst, sie macht einen Scherz.
    Statt auf Wiesen war sie auf dem harten Asphalt New Yorks groß geworden. Hier war sie zuhause und wusste ganz genau, wer wie tickt. „Streetsmart“ sagt man dazu in Amerika. Ich konnte ihr stundenlang zuhören. Ihr großer Traum war eine große Karriere als Schauspielerin und der Job bei uns im Büro nur eine finanziell notwendige Zwischenstation. Vanessa glaubte an sich und ihre
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