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Ein Jahr in New York

Titel: Ein Jahr in New York
Autoren: Nadine Sieger
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ausgeklügeltes Passagen-Netz, ein kleines, unterirdisches, kommerzielles Versorgungsdorf, das man nicht zu verlassen bräuchte. Eine Post, Banken, ein Schuster, Sandwich-Theken, Starbucksfilialen, ein Friseur, eine Drogerie, ein Blumenladen. Hier hatte man alles, außer Tageslicht. Selbst die U-Bahn-Stationen befanden sich direkt unter den hohen Officetürmen. Emsigen Ameisen gleich strömten die Büromenschen wie auf vormarkierten Wegen aus der U-Bahn über den Bahnsteig, die Treppe hoch, durch die Lobby und verschwanden in den Aufzügen.Ich musste in der eleganten Lobby mit den goldverputzten Wänden erst mal kurz innehalten und mich aus diesem eifrigen Menschenstrom befreien. Ich beobachtete, wie die Leute mit ihren Gebäudeausweisen die kleinen Sperrschranken passierten, um zu den Aufzügen zu gelangen, und fühlte mich wie in einem Hochsicherheitstrakt. Zwei Minuten später stand ich suchend im Aufzug und konnte den Knopf für die 26. Etage nicht finden. Dort sollte mein Büro sein. War ich im falschen Gebäude, oder hatte ich die Adresse falsch notiert? „Nein, nein, Sie sind nicht falsch, die Aufzüge auf dieser Seite halten nur bis zum 15. Stock, mit denen auf der anderen Seite können Sie zu allen Etagen oberhalb des 15. Stockwerks fahren“, klärte man mich auf. Aha. Auf zur anderen Seite. Die Tür schloss sich, und der Aufzug setzte sich in Bewegung. Mein Magen auch. Mir wurde flau. Lag es an der rasanten Vertikal-Geschwindigkeit oder an der Gewissheit, dass nun offiziell mein Alltag in New York begann?

November
    V OR MIR LAG DIE L ISTE. Lust hatte ich keine. Aber diesen Telefongesprächen musste ich mich stellen. Zumindest, wenn ich nicht den Rest des Jahres mutterseelenallein durch die Stadt pilgern wollte. Auf diese Liste hatten mir meine Hamburger Freunde die Kontakte ihrer New Yorker Freunde notiert. Kurz fragte ich mich selbst, warum ich mir das eigentlich antat. In Hamburg hatte ich alles. Tolle Freunde. Einen Super-Job. Eine riesige Altbauwohnung. Eine Stadt, die ich liebte. Und zu den fernwehgeplagten Menschen, die schon im Kindergarten von der großen weiten Welt träumten, gehörte ich auch nie. Warum war ich also hier! Weil ich wusste, dass man ein Jobangebot in New York nur ein Mal im Leben bekommt. Und das war nun mal jetzt. Deshalb war ich hier.
    Beim Wählen der Nummern war ich fast ein bisschen nervös, gerade so, als ob am anderen Ende mein lang angehimmelter Jugendschwarm abheben würde. Mehrmals überlegte ich mir, wie ich mich erklären sollte. „Ja, hallo, hier ist Nadine, du kennst mich nicht, aber du kennst Ina. Und Ina kennt mich. Und ich wollte fragen ...“, so formulierte ich mir die Sätze im Kopf zurecht. Freunde hatten sich bisher immer ohne große Anstrengung in mein Leben gesellt. Einfach so. Ganz organisch. Dass ich jetzt bei null anfangen musste, war wirklich mühsam. Aber so ganz ohne soziales Netz in einer fremden Stadt, völlig zurückgeworfen auf mich selbst, blieb mir nichts anderes übrig alsnachzuhelfen. Diese stundenlangen Ferngespräche und wortgewaltigen E-Mails nach Deutschland konnten hier nicht ewig mein Sozialleben ersetzen. Ich wollte die Stadt mit jemandem teilen. Vor Ort.
    Für ein paar Wochen war die Stadt allein Unterhaltung genug, mit allerlei Bekanntschaften, die man hier je nach Bedürfnis dosieren kann. Aus jeder Situation ergibt sich für die New Yorker Gesprächsstoff, der manchmal für einen ganzen Abend reicht. Keine zwei Minuten steht man hier alleine an einer Bar, bevor einen Fragen wie „Und was machen Sie hier? Leben Sie auch in New York?“ aus einsamen Gedanken reißen. Nick zum Beispiel traf ich während einer Presseveranstaltung in einer schicken Bar in Midtown, noch bevor ich meinen ersten Drink bestellt hatte. Zwei Gläser später lud er mich für den darauf folgenden Sonntag zu einem U2-Konzert ein. Und so was meinen New Yorker ernst. Begegnungen dieser Art gibt es hier in allen Variationen. Mit Zukunftspotential und ohne. Manchmal würde man sich gerne verabschieden, bevor man sich überhaupt kennengelernt hat. Und manchmal hat man sich so viel zu erzählen, dass ein Abend kaum ausreicht. Selbstverständlich entpuppt sich manch nettes Gespräch auch als gut getarnte, aber letztlich plumpe Anmache. „Ruf den bloß nicht zurück, der will doch nur das Eine“, warnte mich meine amerikanische Kollegin Vanessa eines Mittages beim Lunch. „Ach Quatsch, wir sind uns einfach sympathisch“, wehrte ich ahnungslos ab. Dann begriff ich
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