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Ein Jahr in New York

Titel: Ein Jahr in New York
Autoren: Nadine Sieger
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dieser Stadt begegnet. Ich bestaunte die vielen Dog-Walker, die zum Teil acht Leinen in einer Hand jonglierten, an denen acht ganz unterschiedliche Hunderassen hingen. Groß, klein, dürr, dick, niedlich, hässlich. Wie ferngesteuert ging dieses Menschen-Hunde-Gespann seines Weges. Wie war das nur möglich? Beruhigungsmittel? Keiner tanzte aus der Reihe oder hob unangemeldet sein Bein. „Oh, ich wusste gar nicht, dass du einen Hund hast“, überhörte ich ein Gespräch hinter mir. Ich drehte mich um und sah einen jungen Typ, der eine kleine veredelte Ameise wie eine lebende Handtasche auf dem Arm trug und darauf sagte: „Ja, er verlässt nur sehr ungern das Haus, deshalb gehe ich so gut wie nie mit ihm spazieren.“ Sein Gegenüber nickte verständnisvoll.
    Ich überquerte die einzig große Straße im Park, die sich von Süden nach Norden quer durch das Grün schlängelt. Unter der Woche war dies eine beliebte Abkürzung für Taxi- und Autofahrer. An Samstagen, Sonntagen und unter der Woche ab 19 Uhr wird die Straße für Autos gesperrt, aber der Verkehr verdichtet sich: Rollerblader, Jogger, Radrennfahrer und Kutschen verwandeln die Straße in einen pulsierenden Parcours. Auf der Wiese gegenüber trainierten Väter in ihren Elite-College-T-Shirts eifrig mit ihren Söhnen Baseball. Eine in rote Trikots gekleidete Gruppe Jugendlicherfeuerte schreiend den jeweiligen Schläger ihres Teams an. Auf etlichen Spielplätzen kreischten Kinder. Die Mütter waren auf den Bänken angeregt ins Gespräch vertieft. Wie ich später feststellte, bot sich genau auf diesen Spielplätzen unter der Woche ein ganz anderes Bild. Von Eltern war an diesen Tagen keine Spur, stattdessen klopften dunkelhaarige Nannys den Sand von den Hosen blonder Kinder, die ganz offensichtlich nicht ihre eigenen waren.
    Die Szenerie war interessanter als Fernsehgucken. Überall ragten die oberen Etagen der in der Ferne stehenden Hochhäuser über die Baumwipfel hinweg und rahmten den Central Park am Horizont wie ein Gemälde ein. „In welchem Haus wohnt wohl Woody Allen? Und Mia Farrow, lebt die tatsächlich direkt gegenüber?“, dachte ich. Gerne hätte ich jetzt auf einen mentalen Auslöser gedrückt, um diese Szene für immer festzuhalten. Und dann – ich traute meinen Augen kaum. War er es wirklich? Bob? Mein erster Amerikaner, Bob aus dem Bus? Etwas zu laut schrie ich quer über die Wiese: „Bob!“, als hätte ich einen alten, jahrelang vermissten Freund wiedergefunden. So kam es mir in diesem Augenblick allerdings auch vor. Er drehte sich um und strahlte mich an. Tatsächlich, er war es. „Na, das gibt es ja gar nicht, the little German girl“, sagte er, und ich hoffte sehr, dass seine Freude so ernst gemeint war wie meine. Ansonsten hätte mich meine losgelöste Wiedersehenseuphorie ziemlich blamiert.
    Damals wurde mir das erste Mal klar, wie klein diese Stadt mit ihren 26 Quadratmeilen trotz der mythischen Größe sein kann. Zufallsbegegnungen dieser Art häuften sich von Monat zu Monat. Das lag natürlich auch daran, dass sich mein eigener Lebensradius reduzierte, je besser ich die Stadt kennenlernte. Wenn man erst mal weiß, wo’s einem am besten gefällt, stellt sich ein gewisser Lokalpatriotismusein, und plötzlich findet man sich selten in einer anderen Nachbarschaft als der eigenen wieder. Aber davon war ich in meinem ersten Monat noch weit entfernt. Erst mal musste mein Arbeitsleben beginnen und damit die Routine. Meine drei arbeitslosen Sightseeing-Wochen waren vorbei, und der erste Arbeitstag stand bevor.

    Das Büro lag in Midtown, in einem der Rockefeller-Center-Gebäude. Und ausnahmsweise hatte Petra mal Recht. Der Weg zur Arbeit dauerte tatsächlich nur 25 Minuten. Von Tür zu Tür. In Midtown wird eigentlich nur gearbeitet, alles ist auf Business- und Bürobedürfnisse ausgerichtet. Ganz nebenbei werden Horden von Touristen durch die Hochhausschluchten geschleust. Ich glaube, genau so hatte ich mir New York aus der Ferne vorgestellt. Mittelpunkt sind die neunzehn Rockefeller-Art-déco-Bauten, die in den Dreißigerjahren von der gleichnamigen Familie errichtet wurden. Die waren Anfang des letzten Jahrhunderts eine der reichsten Familien Amerikas, die einen Großteil ihres Vermögens dem Ölgeschäft zu verdanken hatten. Die Rockefellers schufen hier schon vor vielen Jahrzehnten eine Infrastruktur, die es den fleißigen Menschen in Anzügen ermöglicht, ihre Arbeitszeit zu maximieren. Unter den Gebäuden erstreckt sich ein
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