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Ein Jahr in New York

Titel: Ein Jahr in New York
Autoren: Nadine Sieger
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alteingesessenen New Yorker immer wieder gerne genüsslich zum Besten. Worauf in den meisten Fällen ein Schwall wehmütiger, romantisch eingefärbter Erinnerungen folgte, die damit endeten, dass New York beschuldigt wurde, nicht mehr das zu sein, was es mal war. Es ist die Rede vom Verfall des Mythos New York. „Ja, die Stadt hat sich in den letzten Jahren sehr verändert. Die Wirtschaft boomt wie lange nicht. Aber wie überall auf Kosten von Kreativität und der multikulturellen Vielfalt, die von Kommerz und Geldgier vertrieben und zerstört werden“, hatte Bob mir schon im Bus vorgehalten, „Junge Kreative und Immigranten aus der ganzen Welt, die diese Stadt zu dem machen, was sie ist, und sie jahrzehntelang vorantrieben, können sich mittlerweile weder die Mieten, noch die Umsetzung ihrer Ideen und Träume leisten.“ Stattdessen wimmelt es von Investmentbankern und Immobilienmaklern, die über ehemalige Künstlerviertel wie SoHo und die Lower East Side herfallen. SoHo steht für „South of Houston“ und ist mittlerweileeher eine edle Shoppingmeile für Touristen als die Stätte kreativer Kopfgeburten. „Die Gentrification macht sich wie ein Virus in der ganzen Stadt breit. Nachbarschaft für Nachbarschaft. Gerade ist der Meatpacking District an der Reihe“, seufzte Bob und machte mich gleich am ersten Tag mit dem Wort bekannt, das für die geldgesteuerte Transformation der Viertel stand. Im Meatpacking District, südwestlich von der 9 th Avenue, Ecke 14. Straße wurden vor wenigen Jahren noch Schweine und Rinder in alten Industriehallen geschlachtet und gelagert. Wo kürzlich noch Blut durch die Straßenrinnen lief, stöckeln mittlerweile teuer gekleidete Damen mit Föhnfrisuren in High Heels über das Kopfsteinpflaster. Auf dem Weg zu den edlen Designerboutiquen von Stella McCartney bis Alexander McQueen, die sich hier in den letzten Jahren einquartiert haben. Noch vor 15 Jahren verdienten hier Prostituierte und Transvestiten ihr Geld. Substantieller Broterwerb wurde von nächtlicher Unterhaltung auf teurem Niveau ersetzt. In den vielen schnieken Clubs ist man schon am Eingang zwanzig Dollar los. Und es macht den Eindruck, als wenn hier jeden Monat ein neues Lokal eröffnete, das dann umgehend von Celebrities wie Lindsay Lohan heimgesucht wird. Mittendrin ragt das moderne, kürzlich erbaute Gansevoort Hotel wie ein Fremdkörper über die alten Lagerhallen und Loftgebäude hinweg. Dessen Rooftop-Bar bietet zwar einen spektakulären Blick über den Hudson River, aber nur Auserwählten: Wer als Mann kurze Hosen trägt, hat sich disqualifiziert und wird gar nicht erst hochgelassen. Diskutieren zwecklos.
    Glaubte ich meiner Maklerin Petra, würde mein neues Zuhause Harlem in Kürze zum nächsten Meatpacking District mutieren. „Harlem ist ganz sicher die nächste ‚Up and Coming Neighborhood‘“, behauptete sie, „H&M hateine Filiale eröffnet, und auch Starbucks. Und direkt hier um die Ecke in der 125. Straße ist auch Ex-President Clinton vor kurzem in sein neues Office gezogen.“ Petra hatte meine Enttäuschung also bemerkt und versuchte, mir meine neue Nachbarschaft schmackhaft zu machen. Vergebens. Ein zweites Mal würde ich mich nicht um den Finger wickeln lassen. Sicher, auch hier gab es einiges zu entdecken. Das legendäre Apollo Theater zum Beispiel, das ich am darauf folgenden Mittwoch besuchte. „Ein absolutes Must“, wie mir Petra vorab deutlich machte. Einmal die Woche findet hier die „Amateur Night“ statt, in der sich Gospelsänger aus der Provinz auf die Bühne wagen in der Hoffnung, entdeckt zu werden. Und das schon seit über siebzig Jahren. Angeblich haben hier Jazz- und Soulgrößen wie Ella Fitzgerald und James Brown ihre Karriere begonnen. Ich musste mich drei Mal umsetzen, weil an den ersten mir zugewiesenen Sitzen mit den abgewetzten Polstern jedes Mal eine Armlehne fehlte. Die glorreichen Zeiten verlangten nach einer Renovierung, die kurz nach meinem Besuch stattfand. Das Publikum war trotz allem kaum zu bremsen und tobte bei jeder Vorführung. Oder buhte gnadenlos, bis ein Clown die geknickten Sänger von der Bühne zerrte. Darüber war ich ziemlich erschrocken, aber das radikale „Top or Flop“-Talente-Ausfiltern war anscheinend Tradition.
    Meine Wohnung selbst war akzeptabel. Nicht überwältigend. Aber das hatte ich für tausend Dollar in New York auch nicht erwartet. Zweiter Stock, Altbau, Holzfußboden, etwa 25 Quadratmeter. Eigentlich alles so, wie Petra
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