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Ein Hummer macht noch keinen Sommer

Ein Hummer macht noch keinen Sommer

Titel: Ein Hummer macht noch keinen Sommer
Autoren: Tanja Wekwerth
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Rudolf steht es irgendwie. An wen erinnert er mich bloß? Diese markanten Wangenknochen …
    »Wollen wir noch ein paar Schritte gehen?«, fragte Rudolf.
    »Gern.«
    Ohne zu sprechen, liefen sie eine Weile am dunkel schimmernden Lietzensee entlang. Grillenzirpen war zu hören und Feivels Schnaufen. Von weit her rauschte der Straßenverkehr vom Kaiserdamm. Es klang ein bisschen wie Meeresbrandung.
    »Wie haben Sie das vorhin gemeint: Kompromisslos an sich glauben, alles geben, was man anzubieten hat! Risiken eingehen ?«, fragte Rudolf.
    »Na, genau so.« Natalie blieb stehen und schaute den glitzernden Funkturm an. »Wenn Sie etwas wollen, dann machen Sie sich auf die Reise und sehen Sie zu, dass Sie es bekommen.«
    Rudolf dachte nach, dann räusperte er sich.
    »Würdest du wohl mal mit mir nach Neuruppin fahren?«, fragte er.
    »Gern«, antwortete Natalie und tat so, als wäre sie überhaupt nicht irritiert.
    In einem Anflug von Wagemut hatte Rudolf beschlossen, nicht länger ein verklemmter Zauberlehrling zu sein. »Ich möchte mir diese Löwen-Apotheke mal ansehen«, fuhr er fort. »Und hinterher gehen wir griechisch essen.«
    »Gern«, sagte Natalie wieder, und dann bemerkte sie, dass der Funkturm durch Rudolfs Bart hindurchfunkelte, und so etwas Nettes hatte sie schon lange nicht mehr gesehen. Davon musste sie dringend Theodor berichten. Wie Glühwürmchen in abendlichem Weizenfeld, wie Sternennacht in rotem Stroh, wie … »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du aussiehst wie Vincent van Gogh?«, fragte sie.
    »Oh«, machte Rudolf ergriffen, »oh.«
    »Habe ich etwas Falsches gesagt?«, fragte Natalie besorgt.
    »Im Gegenteil«, beeilte er sich zu sagen. »Ich … also … Es ist ein Zeichen!«
    »Was du nicht sagst!« Natalie starrte Rudolf an. »Ich habe auch gerade ein Zeichen erhalten.«
    »Vielleicht sollten wir uns etwas wünschen?«, flüsterte Rudolf.
    »Fang nicht schon wieder damit an!«
    »Das ist anderes Wünschen«, erklärte Rudolf.
    In diesem Augenblick setzte sich Feivel schwer atmend auf Natalies Füße. »Ich glaube, er hat genug vom Spazierengehen!«, rief sie lachend.
    Die drei machten sich langsam auf den Rückweg.
    Risiken eingehen, dachte Rudolf und legte seine Hand auf Natalies Schulter. Sie schreckte zusammen, dann registrierte sie, dass es sich erstaunlich gut anfühlte: das Gewicht einer männlichen Hand auf ihrer Schulter.
    Als sie wieder in Theodors Wohnung ankamen, schlug ihnen munteres Stimmengewirr entgegen. Es duftete nach Kaffee.
    »Da seid ihr ja wieder!«, rief David. »Wenn ihr euch nicht beeilt, futtert Hertha das ganze Teekonfekt von Wald weg.«
    »So was Gutes habe ich ja noch nie gegessen«, schwärmte Hertha mit vollem Mund. »Reines Königsberger Marzipan!«
    »Jetzt wird das Foto gemacht«, beschied Theodor, und alle mussten sich aufstellen.
    »Achtung!«
    »Jetzt!«
    »Wo ist Feivel?«
    »Wage ja nicht, ihm etwas von dem Marzipan zu geben, Maman!«
    »Cheeeeeeeese!«
    Es blitzte, und obwohl Natalies Augen rot glühten, Davids Gesicht halb von einer Glitzerbarbie verdeckt war und Feivel wie ein irre gewordener Wasserspeier aussah, wurde es ein schönes Foto, das das Glück des Augenblicks gut festhielt.
    Und dann war alles schon wieder in Auflösung begriffen: Hertha setzte sich mit Natalie vor das Marzipan, Rudolf stellte sich ans Fenster und versuchte Herr über seine Emotionen zu werden.
    Rosie rannte zum Grammophon. »Mit Samtpfötchen«, flüsterte sie konzentriert und senkte den Tonarm ganz langsam auf die sich drehende Schellackplatte. Es knisterte, dann erklang Musik.
    Rosie atmete auf. »Thedodo!«, rief sie stolz. »Ich kann’s!«
    »Sehr gut, Rosie. Du bist ein kluges kleines Mädchen.«
    »Ist sie nicht reizend?«, flüsterte David. Theodor nickte und küsste ihn auf die Wange.
    »Das gibt’s nur einmal« , sang es aus dem Grammophontrichter. »Das kommt nie wieder.«
    »Darf ich bitten?« Theodor verbeugte sich vor Rosie, die mit Grandezza seine angebotene Hand ergriff und sich im Takt zu wiegen begann.
    »Herthalein«, sagte David, »tanzt du mit mir?«
    »Natürlich, mein Junge.«
    Nervös blickte Natalie in die leere Wald -Schachtel, und dann stand plötzlich Rudolf neben ihr, wusste nicht, was er sagen sollte, und scharrte mit den Füßen. Natalie sah ihn an. »Ja, gern«, flüsterte sie und erhob sich, so elegant sie konnte.
    Drei tanzende Paare und ein fideler Mops: Es wäre ein weiteres gelungenes Foto gewesen.
    » Heut werden alle Märchen
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