Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Herzschlag bis zur Ewigkeit

Ein Herzschlag bis zur Ewigkeit

Titel: Ein Herzschlag bis zur Ewigkeit
Autoren: Trevanian
Vom Netzwerk:
daß mich jemand beobachtet.«
    »Aber sie hat mich gesehen. Als sie durch den Park ging, hat sie mich bestimmt gesehen.«
    »Sie sprach davon, daß sie jemanden gesehen hätte. Aber sie hat dich nicht erkannt.«
    »Wie sollte sie auch? Wir haben uns nie kennengelernt.«
    Sie sitzen einander schräg gegenüber auf anheimelnd wackeligen Stühlen in der überwölbten Fensternische einer Wohnung im zweiten Stock eines Reihenhauses aus Backstein in der Rue de Bullion, zwei Straßen von der Main entfernt. Unter ihnen füllt sich die Straße mit grünlicher Abenddämmerung, das letzte Licht des Tages schmiegt sich gefangen dicht an den Boden und läßt die Gegenstände auf der Straße heller erscheinen als Schornsteine und Dächer. Während sie miteinander reden, rinnt das Licht allmählich aus. Die rasch sich über die Stadt hinwälzenden Wolken werden dunkler und verschwinden. Und der Raum hinter ihnen tritt langsam in die Finsternis zurück.
    LaPointe ist noch nie in dieser Wohnung gewesen, aber er hat den Eindruck, daß sie sauber und charakterlos ist. Sie schauen sich nicht an, ihre Augen wandern über die Szene vor dem Fenster, wo links gegenüber auf der anderen Straßenseite ein von einer Anschlagtafel dümmlich lächelndes Mädchen im kurzen Schottenröckchen den Leuten einschärft, ja E XPRESS ›A‹ ZU rauchen. Direkt unter ihnen breitet sich eine leere Fläche mit zerbrochenen Ziegeln, die von abgerissenen Häusern stammen, weil hier jetzt eine Fabrik entstehen soll. Auf der nackten Ziegelmauer ein Protest: H IER WOHNTEN 17 M ENSCHEN . Der Protest wird nichts nützen; die Geschichte ist gegen die Menschen.
    Auf der leeren Fläche spielen ein Halbdutzend Kinder ein Spiel, bei dem man rennen, hinfallen und sich totstellen muß. An der nackten Seitenwand eines Hauses, das als nächstes eingerissen werden soll, steht ein älteres Mädchen und schaut zu. Sie steht ernst da. Sie ist zu alt, um mitzurennen und tot umzufallen. Sie ist noch zu jung, um mit Männern in Bars zu gehen. Sie schaut den Kleinen zu, halb in dem Versuch, noch einmal zu ihnen zu gehören, halb schon bereit, etwas anderes zu werden, zu etwas anderem aufzubrechen.
    »Möchtest du was, Claude? Vielleicht ein Gläschen Schnaps?«
    »Bitte.«
    Moische erhebt sich von seinem Stuhl und geht in die Finsternis des Wohnzimmers. »Ich warte schon den ganzen Tag auf dich. Wo du nun schon zu Claire hingefunden hast …« Er hebt mit jeder Hand ein Glas hoch, eine ausdrucksvolle Geste von Unausweichlichkeit. »Ich nehme an, du bist in Ste. Cathérines Höherer Töchterschule gewesen.«
    »Ja.«
    »Und hast in den Kontoaufstellungen natürlich meinen Namen gefunden.«
    »Ja.«
    Moische gibt LaPointe ein Glas und setzt sich, bevor er sein Glas erhebt: »Frieden, Claude.«
    »Frieden.«
    Sie süffeln schweigend ihren Schnaps. Eins der Kinder drunten auf der leeren Fläche hat sich an einem Ziegelstück den Knöchel verknackst und liegt im festgetretenen Dreck. Die andern stehen drum herum. Das Mädchen steht immer noch abseits.
    »Ich bin natürlich verrückt«, sagt Moische schließlich.
    LaPointe zuckt die Achseln.
    »O ja. Verrückt. Verrückt ist kein medizinischer Terminus, sondern ein sozialer. Ich bin nicht irrsinnig, sondern ich bin verrückt. Die Gesellschaft hat Systeme und Regeln aufgerichtet, zu ihrem Schutz, zu ihrer Bequemlichkeit – und zur Tarnung. Wenn jemand gegen die Regeln verstößt, läßt ihm die Gesellschaft nur zwei Möglichkeiten: Entweder hat der Außenseiter aus Gewinnsucht gehandelt, oder er hat nicht aus Gewinnsucht gehandelt. Hat er aus Gewinnsucht gehandelt, ist er ein Verbrecher. Hat er ihre Regeln verletzt, ohne an Gewinn zu denken, ist er verrückt. Den Verbrecher können sie verstehen; seine Motive sind ihre Motive, selbst wenn seine Taktik ein bißchen … drastischer ist. Den Verrückten können sie nicht verstehen. Vor dem haben sie Angst. Den sperren sie hinter Schloß und Riegel. Ob sie ihn nun einsperren oder ob sie sich selbst aussperren – das kommt darauf an, von welchem Standpunkt man es sieht.« Moische seufzt tief, dann kichert er. »David würde den Kopf schütteln, was? Moische, der Luftmensch, hat es noch immer, noch ganz am Schluß, mit der Philosophie, wo es nur noch auf nackte Tatsachen ankommt. Armer David! Was wird er bloß anfangen ohne sein Pinochle!«
    LaPointe reagiert nicht.
    »Ich hab' dir 'nen Haufen Ärger gemacht, nicht wahr, Claude? Tut mir leid. Ich habe zweimal versucht, dir zu beichten.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher