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Ein Hauch Von Sterblichkeit

Ein Hauch Von Sterblichkeit

Titel: Ein Hauch Von Sterblichkeit
Autoren: Granger Ann
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könne. Das kleine Mädchen war inzwischen vierundzwanzig. Onkel Denis wohnte immer noch bei seiner Schwester. Die beiden Frauen hatten sich an den Anblick seines kahlen Schädels gewöhnt, an sein gerötetes Gesicht, den traurig herabhängenden Schnurrbart und den schwammigen Bauch, ganz zu schweigen von seiner Vorliebe für persönlichen Schmuck und unvorteilhaft jugendliche Bomberjacken aus Leder. Sie fragten nicht, woher er sein Geld nahm. Und wenn sie ehrlich waren, wollte es keine der beiden Frauen wirklich genau wissen. Onkel Denis ging nicht arbeiten. Seine Sozialhilfe wanderte – mit Ausnahme gelegentlicher Zahlungen an seine Schwester für seinen Unterhalt – in die Taschen verschiedener Buchmacher und Kneipiers. Gelegentlich war er – wie er es nannte –
    »gut bei Kasse«, und dann stets so großzügig, dass es peinlich war. Vielleicht hatte er auf die richtigen Gäule gesetzt, bei irgendwelchen Pferdewetten, doch irgendwie konnte und wollte Libby dies nicht so recht glauben. Und obwohl Onkel Denis fleißig die einschlägige Sportpresse studierte, schien er kaum in der Lage, einen Gewinner zu erkennen, wenn er ihn vor sich hatte.
    Libby sann über all diese Dinge nach, während sie vorsichtig den kleinen roten Postwagen über die Nebenstraße in Richtung des Weilers Castle Darcy steuerte. Es wäre schön, Onkel Denis endlich los zu sein. Während ihrer vierzig Kilometer langen Auslieferungstour durch die umliegenden Gemeinden fantasierte Libby häufig über Möglichkeiten, wie sie ihn loswerden könnte. Kein Onkel Denis mehr. Ihre Mutter hätte endlich eine Chance, neue Freunde kennen zu lernen. Sie selbst müsste nicht mehr in ständiger Furcht davor leben, vor ihrer Mutter von ihm in Verlegenheit gebracht zu werden. Und sowohl ihrer Mutter als auch ihr selbst blieben seine Tischmanieren erspart.
    Onkel Denis’ Wettervorhersage erwies sich als richtig. Am frühen Morgen hatte es erneut starken Frost gegeben. An geschützten Stellen, wo das Eis vom Vortag nicht geschmolzen war, hatte sich darüber eine dicke weiße Schicht gelegt und die kahle Winterlandschaft verwandelt. Die ersten Sonnenstrahlen fingen sich in dem silbrigen zart gesponnenen Netz der Spinnweben, die sich wie Schleier in den Ästen der Büsche am Wegesrand ausbreiteten. Die ausgestreckten weißen Finger von Eichen und Rosskastanien entlang der Straße glitzerten wie Lametta auf Tannenbäumen in weihnachtlich dekorierten Schaufenstern.
    In Libbys Fantasie wurden die Hausdächer und Giebel zu dem Zuckerbäckerhaus der Hexe aus Hänsel und Gretel. Sogar die nackten feuchten Flächen um die Schornsteine herum, die von frühmorgendlichen Feuern in Kaminen und Herden kündeten: Die Hexe traf Vorbereitungen, kleine Kinder in den Backofen zu schieben. Aber nur im Märchenspiel.

    »Sie ist nicht echt, Kinder!«, echote eine Stimme aus der Vergangenheit in Libbys Kopf. Kreischende Kinder unter den Zuschauern hatten in ihrem Entsetzen innegehalten, hatten gezögert und sich gefragt, ob sie der guten Fee glauben sollten oder nicht.
    Sie hatte so echt ausgesehen. O mein Gott, ja, hatte Libby gedacht. Ein Mann in Verkleidung, natürlich! Das wusste sie heute. Ein Mann, der in seiner eigenen, gewöhnlichen Kleidung wahrscheinlich Onkel Denis ähnlich gesehen hätte. Was für eine unglaubliche Hexe hätte er abgegeben! Mit dem wirren grauen Haar, den gestreiften Strümpfen und dem spitzen Hut! Doch am Ende hatte Hänsel die Hexe in ihren eigenen Ofen gestoßen. Hänsels Tod wäre Mord gewesen, doch der Tod der Hexe war nicht mehr als gerecht. Wie sehr haben wir ihr den Tod gewünscht!, erinnerte sich Libby. Wie sehr haben wir uns gewünscht, dass die böse Frau verschwindet! Am Ende hatte sich alles zum Guten gewandt.

    »Weihnachtlich!«, sagte Libby laut zu sich selbst und war glücklich. Der Streuwagen war am Vortag hier entlanggekommen und hatte die Straße mit Split überzogen – normalerweise wurden die Nebenstraßen vergessen und verwandelten sich nach und nach in spiegelglatte Eisbahnen. Libby war wirklich dankbar. Das ganze Jahr über hatte sich die Verwaltung als unfähig erwiesen, wenn es um die Instandhaltung der Fahrbahnen gegangen war. Das Postauto rumpelte über kleine Schlaglöcher und Risse an den ersten Häusern vorbei und kam schließlich vor zwei niedrigen Cottages zum Halten, die von weitläufigeren Vorgärten geschützt ein wenig abseits der Straße lagen. Libby stellte den Motor ab, streifte die Wollhandschuhe über, die sie
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