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Ein Ende des Wartens

Ein Ende des Wartens

Titel: Ein Ende des Wartens
Autoren: Christian Knieps
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waren, schien sie auch in diesem Fall keines Blickes zu würdigen, und wenn doch, dann konnte sie die Ausdruckslosigkeit wie sonst auch in ihren Augen lesen.
Sie ging an ihren Arbeitsplatz, legte alle Sachen wie sonst immer an ihren Platz und kaum, dass sie saß, trat auch schon Ariane an die Türe ihres Büros, um nachzufragen, ob Annika schon bereit wäre, darüber zu sprechen. Natürlich, entgegnete sie ihrer Kollegin, ohne zu wissen, ob das überhaupt die richtige Antwort war. Doch Annika wusste auch, dass es nicht helfen würde, nur dazusitzen und Trübsal zu blasen – ganz im Gegenteil, am Ende half nur darüber zu reden. Und Ariane war sicherlich die beste Gelegenheit, die sie auf ihrer Arbeitsstelle bekommen würde.
Sie erzählte der sich setzenden Kollegin, wie sie Marco an den Bahnhof gebracht habe und wie sie diesen auch wieder schnell verlassen hatte, um gar keine Gefühle von Trauer oder einem anderen Gefühl in der Öffentlichkeit aufkommen zu lassen. Dann berichtete sie von dem leeren Nachmittag, an dem sie nicht gewusst hatte, was sie mit sich und der freien Zeit anfangen sollte, und Ariane pflichtete ihr bei, dass das ganz normal sei, denn sie habe bisher ja auch ihr Leben im besonderen Maße am Lebenspartner ausgerichtet. Dass bei einem plötzlichen Wegfall oder eine unvorhergesehenen Veränderung ein Vakuum entstand, war zu erwarten gewesen – die Frage sei nur, wie Annika damit umginge und wie schnell sie sich damit abfinden würde, um wieder nach vorne zu blicken.
Als Ariane das Büro verließ, konnte sich Annika endlich in die Arbeit stürzen, die durch den gestrigen, freien Tag nicht gerade weniger geworden war. Sie fuhr ihren Computer hoch, durchforstete ihre Emails nach wichtigen Aufträgen und löste die ersten kleineren Probleme, als sie plötzlich innehielt und auf den Bildschirm starrte. Sie fragte sich, was sie hier tat, was sie hier all die Jahre getan hatte, was ihre Arbeit war. Sie fragte sich, warum sie nicht auf die Idee gekommen war, mal aus dem bisherigen Leben auszubrechen, um auf irgendeinen anderen Kontinent zu fliehen. Einfach fort von hier, nur um auszuprobieren, ob sie es durchstehen würde.
Diese Idee des Fliehens war Annika nicht neu, denn sie war schon früher einmal aus dem elterlichen Haus geflohen, als die Beziehung zwischen ihrer Mutter und ihr für beide nicht mehr tragbar gewesen war, doch sie hatte immer gedacht, dass sie endlich in ihrem Leben angekommen sei, seitdem sie eine eigene Wohnung besaß und auf den eigenen Füßen stand. Umso mehr erstaunte sie nun die Frage nach einer Flucht aus diesem Leben, das sie sich so mühsam hatte erkämpfen müssen.
Bereits mit sechzehn hatte sie ihre Mutter vor die Wahl gesetzt, aus dem elterlichen Haus auszuziehen oder sich endlich den Regeln der Eltern zu unterwerfen. Obwohl ihre Mutter diese Drohung als einen der letztmöglichen Schritte angesehen hatte, ignorierte Annika diese Drohung und provozierte weiter ihren Rauswurf, den sie mit Pauken und Trompeten begleitete. Sie freute sich auf das Leben ohne die Eltern und insbesondere die Mutter im Nacken, und musste bald schon erkennen, dass das Leben auf den eigenen Beinen beiweitem nicht so einfach war, wie sie sich das hatte vorstellen wollen.
Ihre Eltern hatten ihr eine kleine Einzimmerwohnung mit sehr kleinem Bad und integrierter Kochzeile in einem heruntergekommenen Studentenwohnheim besorgt, die sie auch bezahlten. Zusätzlich erhielt Annika ihr Kindergeld ausgezahlt, das in den ersten drei Monaten ihre einzige Einnahmequelle war. Auch wenn sie freiheitsliebend und ein wenig blauäugig ihren endgültigen Rauswurf provoziert hatte, so wusste Annika sehr genau, dass das nicht sehr viel Geld war und vermochte es sich einigermaßen einzuteilen. Als es jedoch daran kam, dass sie sich eine neue Winterjacke kaufen musste, da ihre alte nicht mehr dichthielt, pumpte sie ihren ältesten Bruder an, der ihr zwar das Geld lieh, aber auch nur sehr widerwillig.
Erik war das komplette Gegenteil von Annika. Im Grunde gab es bei Erik rein gar nichts, an dem die Eltern was auszusetzen hatten. Er war der einfachste Sohn, den sich Eltern wünschen konnten, und obwohl Annika das komplette Gegenteil von ihm war – oder vielleicht gerade deswegen – verstanden sich die beiden umso besser. Ihre kleinen Geschwister – zweieiige Zwillinge – Tobias und Jeanne, waren ein paar Jahre später gekommen. Mit diesen hatte Annika naturgemäß weniger zu tun, liebte diese aber wie man
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