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Ein besonderer Junge

Ein besonderer Junge

Titel: Ein besonderer Junge
Autoren: dtv
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bringen müssen, in unserem Alter kam uns das vor wie eine Ewigkeit.
     
    Ich weigerte mich, dieses ungeschickt zusammengeschnürte Päckchen mit seinem zerknitterten Papier gedanklich auszupacken. Wo war es heute, in welcher Schublade hatte ich es zurückgelassen? Mein Gedächtnis erlaubte mir nur eine einzige Erinnerung: Als ich bei der Rückfahrt hinten auf der Rückbank saß und das Abschiedsgeschenk fest an meine Brust presste, ließ ich meinem Schmerz freien Lauf.

 
    Das zurückgehende Wasser legte große Sandzungen frei, auf denen die Überreste gestrandeter Schiffe ruhten, halb mit grünlichem Wasser gefüllte Helme, vereinzelte Schuhe, aufgeplatzte Truhen, aus denen Waffen und Munition herausgefallen waren. Ich untersuchte diese Schätze und stieß einen Siegesschrei aus angesichts eines kleinen Pulverfasses, das ich gerade aus dem Tang gezogen hatte.
     
    Ich war eingeschlafen und in einem Albtraum versunken, der so düster und klar war wie das Meer, auf das ich zuging. Plötzlich tauchte ich auf den tiefsten Grund der aufgewühlten See, wo in einer Wolke aus schimmernden Luftblasen ein Schatten erschien. Dieser Schatten verfolgte mich des Nachts: Seit Jahren träumte ich von ihm. In der einen oder anderen Gestalt schlich er sich immer wieder in meine weit zurückreichenden Albträume ein.
     
    Die Brandung trieb den zierlichen leblosen Körper unerbittlich auf mich zu. Ich erkannte seine Augen, sie waren weit
geöffnet, und seinen gierigen Mund, der sich an mir festsaugte.
     
    Ich spürte einen Biss in der Brust, einen lebhaften Schmerz, der mich aus dem Schlaf aufschreckte. Ich war nicht mehr allein unter der Bettdecke. Die gerade erst heraufziehende Morgenröte durchdrang das Zimmer, ihr fahles Licht umgab eine in ihrer ganzen Länge neben mir liegende Gestalt. Iannis hatte mein T-Shirt hochgeschoben und saugte, beide Hände flach auf meinen Oberkörper gelegt, an meiner Brust. Ich fiel von einem Albtraum in den nächsten. Abgestoßen von diesem Gefühl konnte ich mich nicht beherrschen und stieß den Jungen brutal aus dem Bett. Mit einem leisen Aufschrei fiel er hinaus und verpasste sich, kaum dass er aufgestanden war, eine unglaublich deftige Ohrfeige. Jammernd begann er, vor und zurück zu wippen, während er sich in die Hand biss, mit der er sich gerade geschlagen hatte. Benommen, noch halb im Schlaf, musste ich mich erst einmal vergewissern, dass ich nicht träumte, musste mich fassen und mich der langgliedrigen Gestalt nähern, die rhythmisch hin- und herwippte. Ich sprach ihn leise mit seinem Namen an, erinnerte ihn an meinen und legte meine Hand auf seine Schulter, doch er machte sich los, als hätte er einen Stromschlag erhalten. Ich versuchte noch einmal, ihn zu berühren, und dieses Mal nahm er die Berührung an. Er hörte damit auf, sich zu beißen, und sein Wippen ließ nach. Wieder durchbohrte mich sein Blick. Ich entschloss mich, seine überaus zarte Hand zu nehmen, deren lange Finger meine nicht umschlossen, und behutsam begleitete ich ihnzu seinem Bett. Dort kauerte er sich sogleich in der Embryonalstellung zusammen.
    Ich konnte nicht mehr einschlafen. Die Erinnerung an meinen Albtraum und die albtraumhafte Szene, die ich soeben erlebt hatte, hielt mich davon ab. Erneut fragte ich mich, wie ich so blind hatte sein können, eine solche Arbeit anzunehmen. Ich war wütend auf mich selbst: Wie lange würde ich es neben einem jungen Spinner aushalten, der den von resignierten Sozialarbeitern in einem heruntergekommenen Stadtviertel betreuten Zöglingen ähnelte, denen ich auf meinem Weg manchmal begegnete. Warum hatte ich eine solche Wahl getroffen?
    Auf der anderen Seite der Tür rührte sich nichts, bis vom Erdgeschoss das Klappern von Geschirr zu hören war. Dann hörte ich Iannis’ Bett quietschen.
    Der Türgriff drehte sich, Iannis stieß den Türflügel auf, schloss und öffnete ihn dann wieder, ohne sich dazu durchringen zu können, über die Schwelle in mein Zimmer zu treten. Mit meiner sanftesten Stimme wünschte ich ihm einen guten Morgen. Er wippte ein paar Sekunden hin und her, dann fasste er Mut und machte ein paar Schritte in meine Richtung. In seinem zu kurzen Pyjama sah er aus wie ein Kind, das zu schnell gewachsen war. Die Schönheit seines Gesichts, die noch dadurch gesteigert wurde, dass es keinerlei Gefühl ausdrückte, frappierte mich noch mehr als in der Nacht zuvor. Er wagte ein paar Schritte und streckte mir die Hand hin, was   – wie seine Mutter mir später
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