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Ein besonderer Junge

Ein besonderer Junge

Titel: Ein besonderer Junge
Autoren: dtv
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selbst im Schlaf nicht löste. Die Schönheit des von einer Fülle blonden Haars umkränzten Gesichts war ergreifend, dazu die langen Wimpern und die Nasenlinie, dabei hatte ich ein von psychischen Problemen verzerrtesGesicht erwartet. Auch Helena betrachtete ihn, ohne dass ich an ihrem Gesicht erraten konnte, welche Gefühle sie dabei hatte. Zu meiner Überraschung begann sie, mit sehr leiser Stimme mit ihm zu sprechen:
    »Wir sind hier, Iannis: Louis und ich. Er wird sich um dich kümmern und im Gästezimmer direkt neben deinem Zimmer schlafen. Er hat darauf bestanden, dich zu sehen, bevor er morgen Bekanntschaft mit dir macht. So, jetzt kannst du ruhig weiterschlafen.«
    Da ich mich darüber wunderte, dass sie ihren Sohn ansprach, an dem nichts darauf hinwies, dass er unsere Anwesenheit wahrnahm, fügte sie an mich gerichtet hinzu:
    »Die Spezialisten haben uns immer geraten, jedes neue Ereignis mit Worten zu begleiten. Ich bin nicht sicher, ob das etwas nützt, besonders nicht, wenn er schläft, doch man sollte keine Möglichkeit auslassen, man weiß nie   …«
    Dann bat sie mich mit einer abrupten Geste, das Zimmer zu verlassen, als ob sie mich hinauskomplimentierte, und schloss lautlos die Tür.
    »Gute Nacht, Louis, Sie wissen, wo Sie das Badezimmer finden.«
    Erschöpft hoffte ich, in den Schlaf zu fallen, doch der Anblick des jungen Mannes hatte mich berührt. Ich empfand das Bedürfnis, noch einmal sein Gesicht zu sehen, und erhob mich lautlos, um die Zwischentür zu öffnen. Wieder erhellte die Nachttischlampe das Zimmer mit ihrem blauen Schein. Iannis hatte sich nicht bewegt, zusammengerollt bot er meinem Blick noch immer sein Profil und sein wirres Haar, doch in dem Augenblick, als ich mich über ihn beugte,öffnete er die Augen. Vor Schreck wollte ich sogleich den Rückzug antreten, doch die Sonderbarkeit seines Blick ließ mich erstarren: Seine hellen Augen fixierten einen Punkt weit hinter mir, als wäre ich für ihn nur ein Luftgespenst. Ich beschloss, mich nicht zu bewegen, seine langen Wimpern fielen zu und er schlief wieder ein.
    Ich schlich auf Zehenspitzen aus seinem Zimmer und flüchtete in mein Bett. Diese wenigen Sekunden hatten genügt, um mir Klarheit über meine Aufregung zu verschaffen: Dieses zerzauste Haar, dieses scharfe Profil hatten eine meiner liebsten Kindheitserinnerungen an Horville in mir wachgerufen.

 
    In jenem Jahr hatte das Hôtel des Flots eine neue Leitung bekommen. Die Besitzer hatten einen Sohn, mit dem ich mich anfreundete. Es war das erste Mal, dass ich mich einem Altersgenossen wirklich nahe fühlte, und im Laufe eines Sommers waren Antoine und ich unzertrennlich geworden.
    Diese Vertrautheit, gänzlich neu für mich, war atemberaubend. Mein Freund, der mit seinen Eltern immer in Hotels an der Küste gelebt hatte, kannte alle Geheimnisse des Strands und teilte sie mit mir. Bei Ebbe zogen wir mit unseren Netzen und Eimern los. Antoine sprang von Fels zu Fels, ohne sich zu verletzen, ich bewunderte seinen Instinkt und seine Kühnheit. Er schreckte vor nichts zurück, und manchmal, wenn er energisch seine Hand zurückzog, hing ein Krebs an einem seiner Finger, dem er ohne zu zögern mit blanken Zähnen in die Zange biss, damit das Tier losließ.
    Bei unseren Ausflügen ins Hinterland pflückte Antoine für uns Brombeeren auf Vorrat, deren lauwarmes Fruchtfleisch unter den Zähnen aufplatzte. Ich sah ihn in einem Dickicht aus Zweigen verschwinden, und wenn er von den Brombeeren
zerkratzt wieder herauskam, war sein Gesicht mit roten Flecken übersät, und er strahlte über beide Backen: Mein Freund brachte mich zum Staunen, doch ich war auch empfänglich für die Schönheit dieses jungen Wildfangs.
    Der Augenblick der Abreise war mir noch schmerzhafter vorgekommen als sonst. Wir ließen Horville hinter uns, vor allem aber musste ich Antoine zurücklassen, der mir in zwei Monaten der liebste Mensch auf der Welt geworden war.
     
    In der tiefen Stille des Hauses starrte ich mit weit aufgerissenen Augen in die Nacht und versuchte einzuschlafen, doch die Erinnerungen stiegen in mir auf. Sie waren beharrlich, wurden deutlicher, wie das Gesicht von Antoine. Wie war es möglich gewesen, dieses Gesicht zu vergessen?
     
    Während meine Eltern am Ende der letzten Ferien das Auto beluden, gab mein Freund mir ein Geschenk. Wir waren beide todunglücklich bei dem Gedanken, dass wir uns erst in den nächsten großen Ferien wiedersehen würden: Ein ganzes Jahr würden wir hinter uns
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