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Ein besonderer Junge

Ein besonderer Junge

Titel: Ein besonderer Junge
Autoren: dtv
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weniger, als mich bei der Vorstellung, das Haus wiederzusehen, eine Woge der Angst überkam.
    Dieses Mal konnte ich den Augenblick meiner Verabredung nicht weiter hinauszögern; hinter den Vorhängen des Salons wartete Iannis’ Mutter auf mich. Ich musste ein paar Stufen hinaufgehen und die Terrasse überqueren, dannklopfte ich an die Tür. Ich erkannte die Stimme wieder, mit der ich telefoniert hatte, aus der Tiefe des Hauses rief sie mir zu, ich solle hereinkommen.

II

 
    Sobald ein Sandkorn in die so schlecht verheilte
    Wunde gerät, kippt alles: Liebesbeziehungen,
    Träume, Gewissheiten. Unser Weg
    verliert sich unter dem Sand, Gestein ohne
    Gedächtnis, das zwischen unseren
    Fingern zerrinnt, Stoff schwankender Schicksale,
    Zement vergänglicher Burgen.

 
    Der kleine Eingangsbereich, in dem Regenmäntel und Wetterjacken hingen, mündete ins Wohnzimmer. Es war schwach beleuchtet und vollgestellt mit Möbeln vom Flohmarkt, die nicht zusammenpassten und den Raum wie einen Trödelladen aussehen ließen. Links sah man die letzten Stufen einer Treppe, die sich im Dunkel des oberen Stockwerks verlor. Gegenüber der Eingangstür lag, man ahnte es, das Esszimmer, das an die Küche grenzte, von der eine Seite auf die Veranda hinausging. Hinter den Scheiben schimmerten die Büsche eines klösterlichen Gartens im Mondlicht. Das Klappern einer Schreibmaschine lockte mich ins Wohnzimmer. Vor den doppelten Vorhängen der Verandatür schnitt ein Lichtkreis einen Schreibtisch aus, auf dem eine tragbare Remington thronte. Auf dem Rand eines Aschenbechers brannte eine Zigarette herunter. Eine schlanke Frau schrieb, ihre Finger eilten mit beeindruckender Geschwindigkeit über die Tastatur. Ich sah von ihr nur einen geraden, von der Konzentration angespannten Rücken und das lange kastanienbraune Haar, das eine Haarspange zusammenhielt,aus der sich einzelne Strähnen gelöst hatten. Als sie mich die Tür schließen hörte, drückte sie langsam die Zigarette aus, drehte die Walze ihrer Schreibmaschine, um die Seite herauszuholen, die sie in Arbeit hatte, und ließ sie in einer der Schreibtischschubladen verschwinden. Dann drehte sie sich um.
    Sie war nicht schön, doch ihr Gesicht beeindruckte mich. Ihre etwas kräftige Nase, die bittere Falte um ihren Mund und die tiefdunklen Augen, in denen sich Iris und Pupille nicht voneinander unterschieden, gaben ihren Gesichtszügen etwas Hartes, das durch die Unordnung ihres Haars noch betont wurde. Sie erhob sich und nahm mich in Augenschein, ein wenig länger als nötig, so dass mir unbehaglich zumute war. Wir standen uns gegenüber und betrachteten uns, und ich zögerte, das Schweigen zu brechen, denn ich fühlte, dass sie auf mich zugehen würde. Obwohl sie weit über vierzig war, hatte sie sich eine mädchenhafte Figur bewahrt, die sie in einem großen Männerpullover verhüllte, dessen Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt waren. Plötzlich, als wäre sie zufrieden mit ihrer Musterung, lockerte sie ihre Schulter, rang sich ein Lächeln ab und gab mir einen kurzen, energischen Händedruck. Ihre tadellos aufgereihten Zähne glänzten im Halbdunkel, ein Glanz, der sich in ihrem dunklen Blick fortsetzte.
    »Ich bin Helena. Sie sind Louis, nicht wahr?«
    Sie machte sich Sorgen, ob ich zu Abend gegessen hätte, ob meine Reise gut verlaufen sei, und schlug vor, mir mein Zimmer zu zeigen. Dann ging sie rasch und leichtfüßig mir voraus die Treppe hinauf. Ich konnte es mir nicht verkneifen,ihre zarten, von einer Jeans geformten Hüften zu betrachten. In der ersten Etage führte ein Flur in ein Badezimmer; rechts davon ging ein Elternschlafzimmer ab, in dem ich das Ehebett sah, und links lagen zwei Schlafzimmer, das von Iannis, dessen Tür geschlossen war, und davor meines, das mich an das Zimmer erinnerte, das wir im Hôtel des Flots immer bewohnten. Helena schlug mir vor, zuerst meine Koffer abzustellen und dann noch einmal herunterzukommen, um ein Glas mit ihr zu trinken.

 
    Wieder brannte eine Zigarette zwischen ihren Fingern. Bevor wir uns setzten, sie auf ein abgewetztes Sofa, ich mich auf die Kopie eines Voltaire-Sessels, bot sie mir einen Calvados an.
    »Es wurde höchste Zeit, dass Sie kommen, ich glaube, ich bin am Ende meiner mütterlichen Kräfte.«
    Ihr verschlossenes, ungeduldiges Gesicht machte es mir nicht leicht, mir vorzustellen, welche Art von Mutter sie wohl sein mochte. Ein peinliches Schweigen trat ein, das ich mit der Bitte zu zerstreuen suchte, sie möge mir
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